Urteil des Obersten Gerichtshofs der Niederlande zur Mehrwertsteuerpflicht für E-Books und zur Verfahrensfairness bei digitalen Streitigkeiten

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Das Urteil des Obersten Gerichtshofs der Niederlande vom 28. März 2025 (Nr. 24/01210) befasst sich mit einer vielschichtigen mehrwertsteuerlichen Frage mit sowohl materiell- als auch verfahrensrechtlicher Dimension. Im Mittelpunkt des Rechtsstreits steht der Verkauf von E-Büchern durch einen Einzelunternehmer über eine digitale Plattform, wobei sich die Frage stellt, ob er als Wiederverkäufer oder lediglich als Vermittler tätig war. Diese Unterscheidung ist für die Bestimmung der Mehrwertsteuerpflicht in den Niederlanden entscheidend. Gleichzeitig werden in dieser Rechtssache die verfahrensrechtlichen Grenzen des Anhörungsrechts nach EU-Recht ausgelotet, insbesondere wenn sich die Steuerbehörden auf verspätet offengelegte Beweise stützen. Das Urteil schafft Klarheit über die mehrwertsteuerliche Behandlung digitaler Lieferungen und über die Reichweite der Grundrechte in Steuerverfahren.
Sachverhalt und Hintergrund
Der Steuerpflichtige betrieb eine Online-Plattform, auf der er E-Books zum Herunterladen für hauptsächlich in den Niederlanden ansässige Verbraucher anbot. Die digitalen Inhalte wurden von Nicht-EU-Unternehmen geliefert, und der Steuerpflichtige gab an, lediglich als Vermittler zwischen diesen ausländischen Verlagen und den Endverbrauchern zu fungieren. Er behauptete, seine Rolle beschränke sich auf die Erleichterung der Transaktion im Namen der eigentlichen Anbieter, die rechtlich und wirtschaftlich für die Inhalte verantwortlich blieben. Die Kunden zahlten über die Website, die auch die Logistik und die Kommunikation abwickelte, einschließlich Kaufbestätigungen, Download-Links und Support - alles unter der Marke und dem Namen des Unternehmens des Steuerpflichtigen. Entscheidend ist, dass die Zahlungen über die eigenen Bankkonten oder Zahlungsdienstleister des Steuerpflichtigen abgewickelt wurden und die Kunden zu keinem Zeitpunkt darüber informiert wurden, dass die E-Books von Dritten stammten. Die gesamte Kommunikation, einschließlich automatisierter E-Mails und Rechnungen, wies den Steuerpflichtigen als den offensichtlichen Verkäufer aus.
Auf dieser Grundlage argumentierte er, dass die Lieferungen nicht in den Niederlanden erfolgten und daher nicht der niederländischen Mehrwertsteuer unterlagen. Er meldete keine Ausgangsumsatzsteuer und wandte keine ermäßigten Sätze an. Die niederländischen Steuerbehörden, die sich zum Teil auf Beweise stützten, die im Rahmen einer parallelen strafrechtlichen Untersuchung gesammelt wurden (einschließlich abgefangener Kommunikation und Finanzunterlagen), kamen jedoch zu dem Schluss, dass der Steuerpflichtige in Wirklichkeit ein Wiederverkäufer war, der in seinem eigenen Namen und auf eigene Rechnung digitale Dienstleistungen direkt an Verbraucher erbrachte. Ihrer Ansicht nach trug er das wirtschaftliche Risiko, kontrollierte die Kundenschnittstelle und hatte es versäumt, eindeutig offenzulegen, dass er im Namen von Nicht-EU-Lieferanten handelte. Dementsprechend verhängten sie eine rückwirkende Mehrwertsteuerveranlagung zum allgemeinen Steuersatz für die fraglichen Zeiträume.
Der Steuerpflichtige focht die Veranlagung an und machte geltend, dass er als Vermittler gehandelt habe und, hilfsweise, dass der für Bücher geltende ermäßigte Mehrwertsteuersatz auch für E-Books gelten sollte. Außerdem beanstandete er die verspätete Vorlage wichtiger Unterlagen während des Berufungsverfahrens, die seiner Ansicht nach seine Verteidigung untergrub und seine Verfahrensrechte nach EU-Recht verletzte.
Standpunkte der Parteien
Der Steuerpflichtige machte geltend, dass sich seine Rolle auf die Vermittlung zwischen Nicht-EU-Lieferanten und EU-Verbrauchern beschränke, wodurch der Umsatz nicht in den Anwendungsbereich der niederländischen Mehrwertsteuer falle. Alternativ argumentierte er, dass E-Books den gedruckten Büchern gleichgestellt und mit dem ermäßigten Satz besteuert werden sollten. Schließlich machte er eine Verletzung des EU-Rechts auf rechtliches Gehör geltend, da die Steuerbehörde nicht alle relevanten Unterlagen rechtzeitig offengelegt und damit seine Verfahrensrechte beeinträchtigt habe.
Die Steuerbehörden machten demgegenüber geltend, dass der Steuerpflichtige als tatsächlicher Lieferant tätig war. Sie verwiesen auf wirtschaftliche Indikatoren: Er kontrollierte die kommerziellen Aspekte der Transaktion, wickelte die Zahlungen ab und fungierte als Ansprechpartner für den Kunden. Bei diesen digitalen Lieferungen handele es sich um elektronische Dienstleistungen, die für niederländische Verbraucher erbracht würden und daher in den Niederlanden dem Normalsatz der Mehrwertsteuer unterlägen. In der verfahrensrechtlichen Frage räumten sie die Verzögerung bei der Offenlegung ein, bestritten aber, dass dadurch ein wirklicher Nachteil entstanden sei.
Rechtlicher Rahmen und Rechtsprechung
Ort der Leistung bei elektronisch erbrachten Dienstleistungen
Die mehrwertsteuerrechtliche Einordnung digitaler Umsätze beginnt mit der Bestimmung des Ortes der Leistung. Artikel 58 der Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG (in den Niederlanden umgesetzt durch Artikel 6h des Wet op de omzetbelasting 1968) legt fest, dass elektronisch erbrachte Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige in der EU als an dem Ort erbracht gelten, an dem der Kunde niedergelassen oder ansässig ist. Ist der Steuerpflichtige der Leistungserbringer, wird die Mehrwertsteuer in den Niederlanden geschuldet.
Diese Regelung soll Verzerrungen in der digitalen Wirtschaft verhindern und sicherstellen, dass die Mehrwertsteuer dort gezahlt wird, wo der Verbrauch stattfindet. Um den Lieferer zu ermitteln, müssen jedoch sowohl die vertraglichen als auch die wirtschaftlichen Gegebenheiten berücksichtigt werden.
Lieferant oder Vermittler?
Die EU-Rechtsprechung unterstreicht, dass die Art des Umsatzes auf der Grundlage des Inhalts und nicht der Form beurteilt werden muss. In der Rechtssache Tolsma (C-16/93) stellte der EuGH fest, dass ein steuerpflichtiger Umsatz eine direkte Verbindung zwischen einer Dienstleistung und ihrer Gegenleistung erfordert. In der Rechtssache WebMindLicenses (C-419/14) betonte der Gerichtshof, dass formale Vereinbarungen nicht unbedingt die wirtschaftliche Substanz eines Umsatzes widerspiegeln. Eine Person, die die Lieferbedingungen festlegt, die Zahlungen abwickelt und gegenüber dem Verbraucher verantwortlich ist, kann im Grunde der Anbieter sein.
Die Vermutung der Anbietereigenschaft für Online-Plattformen ist in Artikel 9a der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 kodifiziert. Nach dieser Bestimmung gilt ein Steuerpflichtiger, der das Entgelt genehmigt, die allgemeinen Geschäftsbedingungen festlegt und den Zugang zu Downloads ermöglicht, als Lieferer - es sei denn, es wird eindeutig angegeben, dass eine andere Partei der Lieferer ist, und dies wird sowohl dem Kunden als auch dem Inhaltsanbieter mitgeteilt. Damit wird eine widerlegbare Vermutung geschaffen, die die Beweislast auf den Plattformbetreiber überträgt.
Im vorliegenden Fall hatte der Steuerpflichtige den Zahlungs- und Kundendienst in seine Plattform integriert, und seine Identität erschien während der gesamten Kundenreise. Diese Faktoren deuten stark darauf hin, dass er nach der Verordnung und der Rechtsprechung des EuGH als Anbieter gilt.
Mehrwertsteuertermin für digitale Veröffentlichungen
In der Vergangenheit war die Anwendung ermäßigter Mehrwertsteuersätze auf Bücher auf physische Exemplare gemäß Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie beschränkt. Die Richtlinie 2018/1713/EU änderte diesen Rahmen und ermöglichte es den Mitgliedstaaten, den ermäßigten Steuersatz auf digitale Veröffentlichungen anzuwenden. Die Umsetzung erfolgte jedoch nach eigenem Ermessen. Die Niederlande haben den ermäßigten Mehrwertsteuersatz in den fraglichen Steuerzeiträumen nicht auf E-Books ausgeweitet. Folglich unterlagen elektronische Buchlieferungen nach niederländischem Recht dem Normalsatz von 21 %.
Obwohl Argumente, die sich auf die steuerliche Neutralität stützen - d. h. auf eine ähnliche Behandlung ähnlicher Produkte - in EU-Rechtsstreitigkeiten (z. B. EG gegen Frankreich und Luxemburg) auftauchen, sind diese nur dann überzeugend, wenn die nationale Umsetzung unmittelbar wirksame EU-Rechte verletzt. Das war hier nicht der Fall.
Das Recht auf Anhörung
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein Grundprinzip des EU-Rechts, das in Artikel 41 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist. Dieses Recht gewährleistet, dass der Einzelne die Beweise, auf die sich eine ablehnende Verwaltungsentscheidung stützt, prüfen und dazu Stellung nehmen kann, bevor die Entscheidung rechtskräftig wird. Der EuGH bestätigte dies in der Rechtssache Sopropé (C-349/07), in der er feststellte, dass dieses Recht auch dann gilt, wenn es keine ausdrücklichen nationalen Rechtsvorschriften gibt.
Das Urteil Kamino (C-129/13) bestätigte seine Bedeutung in Steuer- und Zollangelegenheiten. Der EuGH hat jedoch auch festgestellt, dass nicht jeder Verstoß gegen dieses Recht automatisch zur Nichtigkeit führt. Vielmehr müssen die nationalen Gerichte prüfen, ob der Verstoß konkrete Auswirkungen auf das Ergebnis der Entscheidung oder die Fairness des Verfahrens hatte.
Urteil des Obersten Gerichtshofs
Der Oberste Gerichtshof der Niederlande entschied, dass die Vorinstanz den Steuerbescheid zu Unrecht allein wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgehoben hatte. Der Gerichtshof erkannte an, dass dieses Recht tatsächlich eine verbindliche Verfahrensgarantie nach EU-Recht ist und für nationale Steuerverfahren gilt. Der Gerichtshof bekräftigte jedoch, dass seine Verletzung nicht ipso iure zur Nichtigerklärung der daraus resultierenden Entscheidung führt.
Stattdessen verfolgte der Oberste Gerichtshof einen an der EU-Rechtsprechung orientierten Ansatz der Verhältnismäßigkeit, der eine konkrete Bewertung der Frage erfordert, ob der Verfahrensfehler die Verteidigungsmöglichkeiten des Steuerpflichtigen wesentlich beeinträchtigt hat. Der Gerichtshof betonte, dass die Aufhebung eines Steuerbescheids nur dann gerechtfertigt ist, wenn der Verstoß die Position des Steuerpflichtigen tatsächlich und nicht nur theoretisch untergraben hat. Hätte der Steuerpflichtige die Dokumente beispielsweise früher erhalten, hätte er dann andere Beweise oder rechtliche Argumente vorgebracht, die das Ergebnis hätten ändern können?
Da die Vorinstanz eine solche Analyse nicht vorgenommen hatte, hob der Oberste Gerichtshof seine Entscheidung auf und verwies den Fall an ein anderes Berufungsgericht zurück. Dieses Berufungsgericht muss nun nicht nur die verfahrensrechtliche Frage im Lichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung erneut prüfen, sondern sich auch mit den materiellrechtlichen Fragen der Mehrwertsteuer befassen, d. h. mit der Frage, ob der Steuerpflichtige tatsächlich der Lieferer war und ob der Mehrwertsteuer-Normalsatz zu Recht angewandt wurde.
Diese Entscheidung bestätigt, dass die nationalen Gerichte ein Gleichgewicht zwischen der Verfahrensgerechtigkeit und der funktionalen Integrität der Steuerdurchsetzung herstellen müssen. Sie verwirft eine formalistische Sichtweise der Verfahrensrechte und ersetzt sie durch eine kontextbezogene Untersuchung des tatsächlichen Schadens.
Schlussfolgerung
Dieses Urteil des Obersten Gerichtshofs der Niederlande ist ein Leitfaden für Praktiker und Unternehmen, die in der digitalen Wirtschaft tätig sind. Es unterstreicht, dass sich digitale Unternehmer nicht durch Berufung auf formale Vertragskonstruktionen vor der Mehrwertsteuerpflicht schützen können, wenn die wirtschaftliche Realität auf einen Lieferantenstatus hindeutet. Die Zahlungsabwicklung, die Kontrolle der Plattform und die Interaktion mit dem Kunden sind entscheidende Faktoren bei dieser Beurteilung.
Ebenso bekräftigt die Entscheidung die Bedeutung - aber auch die Grenzen - von Verfahrensrechten im Steuerrecht. Das Recht auf Anhörung ist zwar ein Eckpfeiler einer fairen Verwaltung, aber keine automatische Ausweichklausel. Die Steuerzahler müssen einen tatsächlichen Schaden nachweisen, um sich aus verfahrensrechtlichen Gründen durchzusetzen.
Da sich der digitale Handel weiter entwickelt, bietet dieses Urteil einen soliden Rahmen, um die Überschneidung von Mehrwertsteuerrecht, technologischer Innovation und Verfahrensgerechtigkeit zu bewältigen.

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