EuGH Rechtssache C-664/21: Mehrwertsteuerbefreiung, rechtzeitige Vorlage von Dokumenten und Einhaltung der Steuervorschriften

Die Rechtsprechung des EuGH umfasst viele reale Situationen, die sich nur schwer mit einem Rechtsrahmen vorhersagen lassen. In einigen Fällen, wie in der Rechtssache C-664/21, kann der Grund für einen Streit darin liegen, dass zu viele Unternehmen an den Geschäftsvorgängen beteiligt waren und dass die Steuerpflichtigen aufgrund mangelnder Dokumentation möglicherweise eine zusätzliche Mehrwertsteuer schulden.
In der Rechtssache Nec Plus Ultra Cosmetics AG und die Republik Slowenien wurden die Vorschriften über die Mehrwertsteuerbefreiung für Umsätze innerhalb der EU geklärt, wenn die Waren nur in Slowenien gelagert und nicht an slowenische Verbraucher, sondern an Verbraucher in anderen EU-Ländern verkauft wurden.
Hintergrund der Rechtssache
Die Nec Plus Ultra Cosmetics AG (Nec) ist ein in der Schweiz ansässiges Kosmetikunternehmen, das im Jahr 2017 Lieferungen an Verbraucher in Kroatien und in einem Fall an rumänische Verbraucher tätigte. Laut Nec war ein kroatischer Abnehmer oder ein im Namen des Abnehmers handelnder Dritter für den Umgang mit den in einem slowenischen Lagerhaus gelagerten Kosmetikprodukten verantwortlich.
Die Produkte wurden aus anderen EU-Ländern in das slowenische Lager transportiert, wo diese Lieferungen gemäß den nationalen MwSt-Vorschriften von der Mehrwertsteuer befreit waren.
Im Jahr 2019 überprüfte die slowenische Steuerbehörde jedoch die Belege für die in anderen EU-Ländern erbrachten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen und forderte Nec auf, alle einschlägigen Unterlagen für diese Lieferungen vorzulegen. Nec legte nur Rechnungen und Kopien von Frachtbriefen für Waren vor, die aus anderen EU-Ländern nach Slowenien transportiert wurden, konnte aber keine Lieferscheine und andere relevante Dokumente vorlegen. Dies lag daran, dass Nec nicht über diese Dokumente verfügte und noch dabei war, sie zu beschaffen.
Das Problem bestand darin, dass sich einige Dokumente im Nec-Büro in Hamburg, Deutschland, befanden, das im Jahr 2018 geschlossen wurde. Über dieses Büro wurden kroatische Lieferungen abgewickelt. Dennoch reichte Nec die angeforderten Unterlagen nach.
Auf der Grundlage der vorgelegten Unterlagen stellte die Steuerbehörde Nec einen Bericht über eine Steuerprüfung aus und forderte das Unternehmen zur Nachzahlung der Mehrwertsteuer für 2017 auf. Die Steuerbehörde machte geltend, dass die Bedingungen für die Mehrwertsteuerbefreiung für die fraglichen Lieferungen nicht erfüllt waren.
Nec legte gegen die Entscheidung Einspruch ein, aber die Steuerbehörde zweiter Instanz und später das Verwaltungsgericht bestätigten die Schlussfolgerungen und die Entscheidung der Steuerbehörde.
Schließlich legte Nec gegen die Entscheidung Berufung beim Obersten Gerichtshof Sloweniens ein, der schließlich ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richtete.
Hauptfragen aus dem Ersuchen um Vorabentscheidung
Die Hauptfrage des Obersten Gerichtshofs war, ob die EU-Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere Artikel 131 und 138 Absatz 1, und der Grundsatz der Steuerneutralität nationale Gesetze daran hindern, die Vorlage und Erhebung neuer Nachweise zu beschränken.
Können nationale Gesetze Steuerpflichtigen außerdem verbieten, zusätzliche Nachweise zu erbringen, um die Anforderungen während des Verwaltungsverfahrens zu erfüllen, insbesondere wenn sie auf einen Steuerprüfungsbericht reagieren, bevor ein förmlicher Steuerbescheid erlassen wird?
Anwendbarer Artikel der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie
Zwei Artikel der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie waren für den Fall zwischen Nec und der Republik Slowenien am relevantesten. Der erste ist Artikel 131, der besagt, dass die in den Kapiteln 2 bis 9 beschriebenen Mehrwertsteuerbefreiungen unter den von jedem EU-Land festgelegten Bedingungen angewendet werden müssen.
Der zweite relevante Artikel der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie ist Artikel 138 Absatz 1, in dem festgelegt ist, dass die EU-Länder die Lieferung von Gegenständen, die in ein anderes EU-Land befördert werden, von der Steuer befreien müssen, wenn die Beförderung durch den Verkäufer oder Käufer oder in dessen Auftrag erfolgt. Eine weitere Voraussetzung ist, dass es sich bei der empfangenden Partei um eine andere steuerpflichtige Person oder eine nicht steuerpflichtige juristische Person handelt, die in einem anderen EU-Land als dem des Beginns der Beförderung tätig ist.
Nationale slowenische MwSt-Vorschriften
In diesem Fall waren mehrere verschiedene Gesetze und ihre jeweiligen Artikel zu berücksichtigen: Artikel 46 des Mehrwertsteuergesetzes, Artikel 140 und 141 Absatz 1 des Gesetzes über das Steuerverfahren, Artikel 238 Absatz 3 des Gesetzes über das allgemeine Verwaltungsverfahren und Artikel 52 des Gesetzes über Verwaltungsstreitigkeiten.
Artikel 46 entspricht Artikel 131 der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie und legt fest, welche Leistungen von der Mehrwertsteuerzahlung befreit sind.
Artikel 140 des Steuerverfahrensgesetzes definiert das Steuerprüfungsverfahren, die entsprechenden Fristen für die Steuerbehörde und die Steuerpflichtigen sowie die Anforderungen und Fristen für die verspätete Einreichung der erforderlichen Dokumente. Darüber hinaus sieht Artikel 141 Absatz 1 vor, dass die Steuerbehörde nach Abschluss der Steuerprüfung entweder einen Steuerbescheid oder eine Entscheidung zur Feststellung von Unregelmäßigkeiten erlässt, die sich nicht auf den Betrag der geschuldeten Steuer auswirken.
Artikel 238 (3) des Gesetzes über das allgemeine Verwaltungsverfahren legt fest, in welchen Fällen und unter welchen Bedingungen neue Beweise und Tatsachen in verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfen vorgelegt werden können. Artikel 52 des Gesetzes über Verwaltungsstreitigkeiten enthält die gleichen Informationen für Gerichtsverfahren.
Bedeutung des Falles für Steuerpflichtige
Der Streit zwischen der Nec und der Republik Slowenien, insbesondere ihrer Steuerbehörde, unterstreicht, wie wichtig es ist, dass Steuerpflichtige die Kontrolle über ihre Lieferkette behalten und die vollständige Kontrolle über die Dokumente haben, die in diesem Fall für die Mehrwertsteuerbefreiung relevant sind.
Darüber hinaus zeigt dieser Fall, wie wichtig es ist, die nationalen Vorschriften und Regelungen zu verstehen, insbesondere wenn die EU-Länder das Recht haben, bestimmte Bereiche der Mehrwertsteuer unabhängig zu regeln.
Wenn Steuerpflichtige darauf angewiesen sind, dass ihre Kunden die erforderlichen Dokumente vorlegen, ist es von größter Wichtigkeit, die Einhaltung der MwSt-Vorschriften genau zu überwachen. Unzureichende oder ungenaue Aufzeichnungen können bei einer Steuerprüfung zu Problemen führen, deren Folgen in diesem EuGH-Fall aufgezeigt werden.
Analyse der Feststellungen des Gerichtshofs
Als erstes hob der EuGH in seinem Urteil hervor, dass das Mehrwertsteuersystem gemäß seiner Rechtsprechung zum Recht auf Vorsteuerabzug die Steuerneutralität für alle wirtschaftlichen Tätigkeiten wahren muss. Mit anderen Worten: Solange die Tätigkeiten generell der Mehrwertsteuer unterliegen, sollten sie unabhängig von ihrem Zweck oder Ergebnis gleich behandelt werden.
Darüber hinaus ist das Recht auf Vorsteuerabzug und -erstattung fester Bestandteil des Mehrwertsteuersystems und darf im Prinzip nicht eingeschränkt werden. Nach dem Grundsatz der Neutralität ist ein Steuerpflichtiger zum Abzug oder zur Erstattung der Vorsteuer berechtigt, wenn er die materiellen Voraussetzungen erfüllt. Dieses Recht sollte nicht verweigert werden, auch wenn der Steuerpflichtige bestimmte formale Anforderungen nicht erfüllt.
Der einzige Grund, dieses Recht zu verweigern, ist, wenn die Nichterfüllung der Anforderungen den Steuerpflichtigen daran hindert, den schlüssigen Nachweis zu erbringen, dass die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.
Der EuGH betonte, dass sich der Streit im Ausgangsverfahren nicht auf die Nichterfüllung der formalen Anforderungen bezieht, die den Nachweis des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung gemäß Artikel 138 Absatz 1 der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie verhindern würden. Vielmehr geht es um die Frage, wann der Steuerpflichtige, Nec, Unterlagen vorlegen darf, die seinen Anspruch auf die Mehrwertsteuerbefreiung belegen.
Der EuGH fügte hinzu, dass die Rechtsprechung die EU-Länder und ihre nationalen Verwaltungsorgane nicht daran hindert, die erforderlichen Nachweise, wie z. B. Belege, nach der Entscheidung zu akzeptieren. Allerdings müssen die nationalen Rechtsvorschriften zwei EU-Rechtsgrundsätze einhalten.
Der erste ist der Grundsatz der Gleichwertigkeit, der besagt, dass die nationalen Vorschriften nicht ungünstiger sein dürfen als die, die in vergleichbaren Fällen im Inland gelten. Der zweite Grundsatz ist die Wirksamkeit, d. h. die nationalen Vorschriften oder Maßnahmen dürfen die Ausübung der EU-Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
Unter diesem Gesichtspunkt kam der EuGH zu dem Schluss, dass die EU-Länder eine Mehrwertsteuerbefreiung verweigern dürfen, wenn der Steuerpflichtige die erforderlichen Unterlagen nicht innerhalb der vorgegebenen Fristen vorlegt, sofern die nationalen Vorschriften mit den Grundsätzen der Gleichwertigkeit und der Wirksamkeit übereinstimmen.
Der EuGH fügte hinzu, dass die Verweigerung der Berücksichtigung von Nachweisen, die belegen, dass die Voraussetzungen für eine Mehrwertsteuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen erfüllt sind, im Widerspruch zum Grundsatz der Steuerneutralität steht. Dieser darf als eines der Grundprinzipien des gemeinsamen EU-Mehrwertsteuersystems nicht eingeschränkt werden, und die Nichtberücksichtigung stichhaltiger Beweise untergräbt ihn. Darüber hinaus müssen die Steuerbehörden diesen Grundsatz wahren, wenn sie Steuerbefreiungen in einem frühen Stadium des Steuerverfahrens verweigern.
Die Steuerbehörden können sich zwar weigern, von einem Steuerpflichtigen vor Erlass des Steuerbescheids vorgelegte Belege zu berücksichtigen, doch muss eine solche Weigerung durch besondere Umstände begründet sein. Zu diesen Umständen kann das Fehlen eines triftigen Grundes für die Verzögerung oder der durch die Verzögerung verursachte Verlust von Steuereinnahmen gehören.
Die Weigerung, solche Belege zu berücksichtigen, kann Steuerpflichtige in eine schwierige Lage versetzen, ihre Rechte aus dem EU-Recht auszuüben, und ihre Fähigkeit einschränken, nachzuweisen, dass sie die materiellen Voraussetzungen für eine Mehrwertsteuerbefreiung erfüllen.
Dies bedeutet, dass nationale Rechtsvorschriften, die Steuerpflichtige an der Vorlage ausstehender Unterlagen hindern, ohne die stichhaltigen Gründe für die Verzögerung zu berücksichtigen, nicht mit den EU-Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer vereinbar sind.
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Steuerprüfungsbericht nicht die endgültige Entscheidung darstellt, sondern ein Zwischenschritt ist, mit dem der Steuerpflichtige über die Feststellungen informiert wird, und dass die in diesem frühen Stadium vorgelegten Belege berücksichtigt werden sollten, bevor der endgültige Steuerbescheid erlassen wird.
Endgültige Entscheidung des Gerichts
Der EuGH entschied, dass die Artikel 131 und 138 Absatz 1 der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Steuerneutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit die nationalen Rechtsvorschriften nicht daran hindern, die Vorlage neuer Belege während des Verwaltungsverfahrens zu verbieten, insbesondere nach der Steuerprüfung, aber vor Erlass eines Steuerbescheids.
Damit eine solche nationale Maßnahme gültig ist, müssen jedoch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden.
Wenn das slowenische Recht die genannten Grundsätze beachtet, kann es in diesem Fall vorsehen, dass die slowenischen Steuerbehörden die Berücksichtigung neuer Beweismittel, wie z. B. Belege von Nec, die nach einer Steuerprüfung und vor Erlass eines Mehrwertsteuer- oder Steuerbescheids vorgelegt werden, verweigern können, wenn der Oberste Gerichtshof feststellt, dass der Grundsatz der Gleichwertigkeit beachtet wird.
Schlussfolgerung
Obwohl Nec die Unterlagen, mit denen es seine Ansprüche auf die Mehrwertsteuerbefreiung belegte, nicht rechtzeitig vorlegte, machte die Steuerbehörde von ihrem Recht Gebrauch, verspätet eingereichte Belege abzulehnen. Darüber hinaus entschied der EuGH, dass Slowenien das Recht hatte, eine solche Maßnahme zu verhängen, solange bestimmte grundlegende EU-Mehrwertsteuerprinzipien eingehalten wurden.
Diese Entscheidung verdeutlicht das empfindliche Gleichgewicht zwischen den EU-weiten MwSt-Vorschriften und den nationalen Steuerverfahren. Außerdem wird bekräftigt, dass die nationalen Gesetzgeber ein Gleichgewicht zwischen der Verfahrensdisziplin und den Grundrechten der Steuerpflichtigen nach EU-Recht herstellen müssen, um sicherzustellen, dass berechtigte Ansprüche nicht zu Unrecht aufgrund von Verfahrensfristen abgelehnt werden.
Quelle: Rechtssache C-664/21 - Nec Plus Ultra Cosmetics AG gegen Republik Slowenien, EU-Mehrwertsteuerrichtlinie

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