EuGH, Rechtssache C-68/23: Digitale Gutscheine und Mehrwertsteuer - Klärung der Abgrenzung zwischen Einzweck- und Mehrzweck-Gutscheinen
-wfmqhtc7i6.webp)
🎧 Lieber zuhören?
Holen Sie sich die Audioversion dieses Artikels und bleiben Sie auf dem Laufenden, ohne lesen zu müssen - perfekt für Multitasking oder Lernen unterwegs.
Am 18. April 2024 verkündete der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sein Urteil in der Rechtssache C-68/23, M-GbR gegen Finanzamt O. In dieser Rechtssache ging es um eine grundlegende Frage des Mehrwertsteuerrechts: Wann und unter welchen Bedingungen unterliegen elektronische Gutscheine der Mehrwertsteuer? Im Mittelpunkt der Rechtssache stand die Einstufung von Gutscheinen in der MwSt-Richtlinie als "Einzweck-Gutscheine" (SPV) oder "Mehrzweck-Gutscheine" (MPV). Diese Unterscheidung ist von entscheidender Bedeutung, da sie den Zeitpunkt der Mehrwertsteuerpflicht und die Behandlung des Gutscheins bei Ausstellung, Übertragung und Einlösung bestimmt. In dem Fall ging es um digitale Gutscheine, die nur in Deutschland eingelöst werden können, aber über eine grenzüberschreitende Vertriebskette verkauft werden. Das Urteil hat weitreichende Auswirkungen auf die digitale Wirtschaft, insbesondere auf Plattformen, die digitale Inhalte über Prepaid-Karten oder -Codes verkaufen.
Fakten und Umstände
Im Jahr 2019 verkaufte das deutsche Unternehmen M-GbR über seine Online-Plattform sogenannte "X-Karten". Bei diesen Gutscheinen handelte es sich um Prepaid-Codes, mit denen die Nutzer ihr Konto bei Shop X aufladen konnten, um digitale Inhalte zu erwerben. Shop X wurde von dem im Vereinigten Königreich ansässigen Unternehmen Y betrieben. Die Gutscheine waren über einen Ländercode - in diesem Fall "DE" für Deutschland - an bestimmte Länder gebunden und konnten gemäß den Geschäftsbedingungen von Y nur von Kunden mit einem deutschen Benutzerkonto und einem Wohnsitz in Deutschland eingelöst werden.
Die M-GbR erwarb die X-Karten über in anderen Mitgliedstaaten ansässige Vermittler. In ihren MwSt.-Erklärungen behandelte M-GbR die Gutscheine als Mehrzweck-Gutscheine und argumentierte, dass der Ort der Lieferung und der anwendbare MwSt.-Satz zum Zeitpunkt der Übertragung nicht mit ausreichender Sicherheit bestimmt werden konnten. M-GbR argumentierte, dass Kunden territoriale Beschränkungen umgehen könnten, indem sie beispielsweise ein deutsches Konto anmelden, obwohl sie ihren Wohnsitz im Ausland haben, um in den Genuss niedrigerer Preise zu kommen.
Die deutschen Finanzbehörden vertraten die Auffassung, dass die Gutscheine als Zweckgesellschaften eingestuft werden sollten. Nach Ansicht der Behörden waren sowohl der Ort der Lieferung als auch die anwendbare Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt der Ausstellung bekannt, da die Gutscheine ausschließlich für den deutschen Markt bestimmt waren. Die Tatsache, dass einige Nutzer die Verwendungsbedingungen möglicherweise nicht einhalten, sei unerheblich. Das Finanzamt setzte daher eine zusätzliche Umsatzsteuerfestsetzung fest. Nachdem die Vorinstanz den Einspruch der M-GbR zurückgewiesen hatte, legte der Bundesfinanzhof dem EuGH Vorabentscheidungsfragen vor.
Rechtlicher Rahmen
Seit der Einführung der Richtlinie 2016/1065 sind Gutscheine in der MwStSystRL ausdrücklich geregelt. Art. 30a definiert eine SPV als einen Gutschein, bei dem zum Zeitpunkt der Ausstellung sowohl der Ort der Lieferung als auch die anwendbare Mehrwertsteuer bekannt sind. In solchen Fällen wird die Mehrwertsteuer bei der Ausstellung oder Übertragung fällig. Ein Gutschein, der diese Kriterien nicht erfüllt, ist ein Mehrzweck-Gutschein. Bei Mehrzweck-Gutscheinen wird die Mehrwertsteuer erst bei der Einlösung durch den Endverbraucher fällig.
Artikel 30b der Richtlinie sieht vor, dass jede Übertragung einer Zweckgesellschaft als steuerpflichtiger Umsatz behandelt wird. Bei Mehrzweckvehikeln werden Übertragungen im Allgemeinen nicht besteuert, es sei denn, sie beinhalten eigenständige Dienstleistungen wie Vertrieb oder Werbung. Artikel 58 ist ebenfalls von Bedeutung: Er besagt, dass bei elektronisch erbrachten Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige der Ort der Dienstleistung der Wohnsitz des Kunden ist.
Rechtsfrage und Argumente der Parteien
Die wichtigste Rechtsfrage war, ob die Tatsache, dass die Gutscheine über eine grenzüberschreitende Lieferkette zwischen Steuerpflichtigen in verschiedenen Mitgliedstaaten vertrieben wurden, ihrer Einstufung als SPV entgegensteht. Die M-GbR machte geltend, dass der Ort der Lieferung bei der Ausstellung nicht mit Sicherheit bestimmt werden könne. Die Kunden könnten sich mit falschen Daten oder über VPN registrieren lassen, um von den Preisunterschieden zwischen den Mitgliedstaaten zu profitieren. Daher seien die Auswirkungen auf die Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt der Ausstellung nicht hinreichend klar, und die Gutscheine sollten als Mehrzweck-Gutscheine betrachtet werden.
Die deutsche Steuerbehörde und die Europäische Kommission argumentierten, dass der objektive Charakter und die beabsichtigte Verwendung der Gutscheine entscheidend seien. Aufgrund des Ländercodes und der verbindlichen Verwendungsbedingungen seien die Gutscheine eindeutig auf Deutschland beschränkt. Eine etwaige Manipulation des Nutzers sei für die rechtliche Einordnung unerheblich. Damit seien die Voraussetzungen für die Einstufung als SPV zum Zeitpunkt der Ausgabe voll erfüllt gewesen.
Urteil des EuGH
Der EuGH entschied, dass die Einstufung als SPV ausschließlich auf objektiven Merkmalen beruhen muss, die zum Zeitpunkt der Ausgabe vorlagen. Es müssen zwei kumulative Bedingungen erfüllt sein: (1) der Ort der Leistung muss bekannt sein, und (2) die anwendbare Mehrwertsteuer muss bestimmbar sein. Diese Kriterien müssen unabhängig von einem möglichen oder tatsächlichen Missbrauch durch die Verbraucher beurteilt werden.
Im vorliegenden Fall hielt es der Gerichtshof angesichts des Ländercodes "DE" und der Verwendungsbeschränkungen für plausibel, dass der Ort der Lieferung Deutschland war. Ob auch der Mehrwertsteuersatz - unabhängig von der Art der digitalen Inhalte - im Voraus festgelegt wurde, war vom vorlegenden Gericht zu beurteilen.
Der Gerichtshof bestätigte auch, dass die Tatsache, dass ein Gutschein zwischen Steuerpflichtigen in verschiedenen Mitgliedstaaten übertragen wird, keinen Einfluss auf seine Einstufung hat. Die rechtliche Fiktion nach Artikel 30b Absatz 1, wonach jede Übertragung einer Zweckgesellschaft als Lieferung behandelt wird, ändert nichts an der auf der Ausgabe beruhenden Analyse.
Stellt sich heraus, dass der anwendbare Mehrwertsteuersatz je nach Art der digitalen Inhalte variiert, muss der Gutschein als Mehrzweck-Gutschein behandelt werden. In diesem Fall wird die Mehrwertsteuer erst bei der Einlösung fällig. Der Gerichtshof betonte ferner, dass auch Mehrzweck-Gutscheine zu steuerpflichtigen Umsätzen führen können, wenn eine eigenständige Dienstleistung wie Vertrieb oder Werbung erbracht wird. Ob die M-GbR solche Leistungen erbringt, hängt von ihrer tatsächlichen Rolle in der Lieferkette ab.
Schließlich wies der Gerichtshof die Relevanz früherer Urteile wie Lebara (C-520/10) zurück, in dem es um Prepaid-Telekommunikationskarten in der Zeit vor 2019 ging. Dieses Urteil betraf Zweckgesellschaften und steht nicht im Widerspruch zu den aktuellen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie.
Auswirkungen für die Praxis
Dieses Urteil hat erhebliche Auswirkungen auf Unternehmen, die mit Gutscheinen für digitale Dienstleistungen oder Waren handeln, insbesondere in einem grenzüberschreitenden Kontext. Der EuGH stellt einen klaren Test auf: Die Einstufung eines Gutscheins muss auf objektiven, überprüfbaren Informationen zum Zeitpunkt der Ausstellung beruhen. Das Verhalten der Endverbraucher ist irrelevant; es sind die Bedingungen und technischen Beschränkungen des Emittenten, die die mehrwertsteuerliche Behandlung bestimmen.
Die Aussteller müssen sicherstellen, dass ihre Nutzungsbedingungen und Systeme - einschließlich der Ländercodes und der Kontoüberprüfung - den Ort der Leistung eindeutig festlegen. Wenn sowohl der Ort als auch der Mehrwertsteuersatz bei der Ausstellung bekannt sind, wird die Mehrwertsteuer sofort fällig. Andernfalls fällt die Mehrwertsteuer bei der Einlösung an. Die Händler müssen auch prüfen, ob ihre Rolle steuerpflichtige Dienstleistungen umfasst, insbesondere im Falle von Mehrzweck-Gutscheinen.
Schlussfolgerung
Das Urteil in der Rechtssache M-GbR gegen Finanzamt O unterstreicht die Bedeutung der Rechtsklarheit bei der umsatzsteuerlichen Behandlung von Gutscheinen. Der Gerichtshof bestätigt, dass die Einstufung ausschließlich von objektiven Faktoren abhängt, die zum Zeitpunkt der Ausstellung bekannt sind. Dies schafft Rechtssicherheit sowohl für Unternehmen als auch für Steuerbehörden in der gesamten EU. Unternehmen, die Gutscheinstrukturen verwenden, müssen ihre Systeme und Bedingungen im Lichte dieser Kriterien überprüfen, um das Risiko von Nachveranlagungen oder fehlerhaften MwSt.-Meldungen zu vermeiden.

Ausgewählte Einblicke

Wie sich Änderungen der Registrierungsschwellen auf Unternehmen auswirken | Einhaltung der Mehrwertsteuer, GST und Verkaufssteuer
🕝 May 30, 2025
Wichtige Faktoren, die beim Outsourcing der Einhaltung indirekter Steuern in der digitalen Wirtschaft zu berücksichtigen sind
🕝 May 22, 2025
Praxis des Obersten Verwaltungsgerichts Litauen bei der Anfechtung von Entscheidungen der Steuerverwaltung
🕝 May 19, 2025
US-Verkaufssteuerbefreiungszertifikate für Einzelhandel und E-Commerce erklärt
🕝 May 15, 2025Mehr Nachrichten von Europa
Erhalten Sie Echtzeit-Updates und Entwicklungen aus aller Welt, damit Sie informiert und vorbereitet sind.