EuGH entscheidet gegen Deutschland wegen Mehrwertsteuererstattungspraktiken - Rechtssache C-371/19

In den meisten Fällen, in denen der EuGH tätig wird, legen Einzelpersonen oder Unternehmen gegen die Entscheidungen der nationalen Steuerbehörden und Gerichte der EU-Länder Berufung ein, woraufhin die letztinstanzlichen nationalen Gerichte dem EuGH ein Ersuchen um Vorabentscheidung vorlegen.
Im vorliegenden Fall war es jedoch die Europäische Kommission, die Klage gegen Deutschland erhob, weil es gegen EU-Vorschriften und -Verordnungen verstieß, indem es sich systematisch weigerte, die in einem Mehrwertsteuererstattungsantrag ausländischer Steuerpflichtiger fehlenden Informationen anzufordern, was zur sofortigen Ablehnung führte, wenn die fehlenden Informationen nach der ursprünglichen Einreichungsfrist vorgelegt wurden.
Hintergrund des Falles
Nachdem die Europäische Kommission (Kommission) eine Beschwerde über die Praxis der deutschen Finanzbehörden bei der Bearbeitung von Mehrwertsteuererstattungsanträgen von Steuerpflichtigen aus anderen EU-Ländern erhalten hatte, richtete sie 2016 ein förmliches Schreiben an Deutschland wegen der Verletzung des Rechts der Steuerpflichtigen auf Mehrwertsteuererstattung.
In ihrem förmlichen Schreiben wies die Kommission darauf hin, dass die EU-Länder gemäß Artikel 20 Absatz 1 der Richtlinie 2008/9 zusätzliche Informationen von den Steuerpflichtigen anfordern müssen, bevor sie den Antrag auf Mehrwertsteuererstattung ablehnen, wenn die vorgelegten Informationen unvollständig oder unzureichend sind. Darüber hinaus steht die systematische Ablehnung von Mehrwertsteuererstattungsanträgen aufgrund unvollständiger Informationen ohne die Bitte um Klarstellung im Widerspruch zur EU-Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere zu den Artikeln 170 und 171.
In seiner Antwort auf das förmliche Schreiben wies Deutschland die Vorwürfe jedoch zurück. Es erklärte, dass die EU-Mehrwertsteuervorschriften und -verordnungen die EU-Länder nicht dazu verpflichten, fehlende Informationen anzufordern, und dass es allein in der Verantwortung des Steuerpflichtigen liege, die erforderlichen Informationen zu liefern, wenn er eine Mehrwertsteuererstattung beantrage. Außerdem erklärte Deutschland, dass es seit 2014 keine Anträge auf Mehrwertsteuererstattung mehr ablehnt, wenn Belege unvollständig sind oder fehlen.
In seinen beiden Schreiben an die Kommission betonte Deutschland, dass die nationalen Steuerbehörden Anträge nur in zwei Fällen automatisch ablehnen: wenn die Steuerpflichtigen zuvor an die Verpflichtung zur Vorlage von Belegen erinnert wurden oder wenn die Frist bereits abgelaufen war.
In ihrer an Deutschland gerichteten Stellungnahme aus dem Jahr 2018 vertrat die Kommission jedoch weiterhin die Auffassung, dass die Frage ungelöst sei. Die Hauptgründe für diese Schlussfolgerung waren, dass nach dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität das Recht auf Vorsteuerabzug oder -erstattung entsteht, sobald die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, auch wenn die formalen Anforderungen unvollständig sind, und dass jede noch so kleine Information nach Code 10 einen Antrag auf Mehrwertsteuererstattung gültig macht.
Darüber hinaus stellte die Kommission fest, dass die deutsche Praxis, unvollständige Anträge sofort abzulehnen, ohne weitere Informationen einzuholen, gegen den Grundsatz der Mehrwertsteuerneutralität verstößt, der besagt, dass Steuerpflichtige die Möglichkeit haben müssen, zusätzliche Informationen vorzulegen, wenn der ursprüngliche Antrag rechtzeitig eingereicht wurde, und die Ablehnung nur auf verspätete Anträge beschränkt wird.
Das letzte Argument der Kommission lautete, dass die Weigerung Deutschlands, zusätzliche Informationen anzufordern, die Wirksamkeit des MwSt-Erstattungsverfahrens beeinträchtigt und gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstößt.
Die Kommission gab Deutschland zwei Monate Zeit, seine Praxis zu korrigieren. Nach Ablauf dieser Frist wies das deutsche Bundesfinanzministerium die Finanzämter an, zusätzliche Informationen anzufordern, wenn die Anträge auf Erstattung der Mehrwertsteuer unvollständig oder unklar waren. Es hielt jedoch daran fest, dass nach Ablauf der Frist für die Einreichung eines MwSt-Erstattungsantrags keine Verpflichtung bestehe, fehlende Unterlagen anzufordern.
Da Deutschland sich weigerte, seine Praxis zu ändern, leitete die Kommission rechtliche Schritte ein und machte geltend, dass diese Verwaltungspraxis gegen die Artikel 170 und 171 der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie und Artikel 5 der Richtlinie 2008/9 verstoße.
Hauptvorwürfe in diesem Fall
Anders als in anderen EuGH-Rechtssachen, in denen die nationalen Gerichte in ihrem Vorabentscheidungsersuchen eine oder mehrere Fragen ansprechen, hat die Kommission drei Rügen gegen Deutschland erhoben, die sich auf die Verletzung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Wirksamkeit des Rechts auf Mehrwertsteuererstattung und des Grundsatzes des Vertrauensschutzes beziehen.
Anwendbarer Artikel der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie
Die wichtigsten Artikel der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie, um die es hier geht, sind die Artikel 170 und 171 Absatz 1, die Steuerpflichtigen, die nicht in dem EU-Land ansässig sind, in dem sie Gegenstände oder Dienstleistungen erwerben, das Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer gewähren, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, und die das Verfahren beschreiben, das die Steuerpflichtigen einhalten müssen.
Zusätzlich zu diesen beiden Artikeln der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie wurden die Artikel 1, 3, 5, 6, 8, 9, 10, 11, 15, 19 und 20 der Richtlinie 2008/9, in denen detaillierte Regeln für die Mehrwertsteuererstattung in Fällen festgelegt sind, in denen der Steuerpflichtige nicht in dem EU-Land ansässig ist, in dem der Antrag gestellt wird, vom EuGH bei der Entscheidung über die Beschwerden der Kommission gegen Deutschland berücksichtigt.
Nationale MwSt-Vorschriften Deutschlands
Nach § 18 Absatz 9 des deutschen Umsatzsteuergesetzes kann das Bundesministerium der Finanzen mit Zustimmung des Bundesrates besondere Verfahren zur Erstattung der Vorsteuer an im Ausland ansässige Steuerpflichtige einführen.
Artikel 61 der Durchführungsverordnung besagt, dass Steuerpflichtige aus einem anderen EU-Land den Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer elektronisch über das Portal ihres Heimatlandes stellen müssen. Sie müssen auch alle erforderlichen Informationen gemäß Artikel 8 und 9 Absatz 1 der Richtlinie 2008/9 enthalten.
Darüber hinaus besagt Artikel 61, dass ein Antrag auf Mehrwertsteuererstattung innerhalb von neun Monaten nach dem Kalenderjahr, in dem der Erstattungsanspruch entstanden ist, eingereicht werden muss, d. h. bis zum 30. September. Übersteigen die Umsätze 1.000 EUR bzw. 250 EUR bei Kraftstoffkäufen, muss der Antrag gescannte Kopien von Rechnungen und Einfuhrdokumenten enthalten.
Bedeutung des Falles für Steuerpflichtige
Der Fall zwischen der Kommission und Deutschland ist für Steuerpflichtige von großer Bedeutung, da er zeigt, wie sie vorgehen können, wenn ein bestimmtes EU-Land ihre Rechte aus der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie und den dazugehörigen Durchführungsverordnungen verletzt.
Darüber hinaus haben der Fall und das Urteil das Recht der Steuerpflichtigen gestärkt, eine Mehrwertsteuererstattung zu beantragen, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, auch wenn formale Anforderungen, wie fehlende oder unvollständige Informationen, nicht vollständig erfüllt sind.
Schließlich befasst sich das Urteil mit der automatischen oder systematischen Einschränkung der Rechte der Steuerpflichtigen, wodurch die Rechtssicherheit gestärkt und eine einheitliche Anwendung der Vorschriften für die Mehrwertsteuererstattung in allen EU-Ländern gewährleistet wird.
Analyse der Feststellungen des Gerichtshofs
Nach Prüfung des Antrags Deutschlands, die Klage als teilweise unzulässig abzuweisen, und der Erwiderung der Kommission, in der der EuGH die Einwände Deutschlands zurückweist, gab der EuGH den Klagen statt und beschloss, weiter zu verfahren. Der EuGH prüfte die erste und zweite Rüge hinsichtlich der Verletzung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Wirksamkeit des Rechts auf Mehrwertsteuererstattung.
Wie in dem Urteil dargelegt, argumentierte die Kommission, dass die Weigerung, zusätzliche Informationen von Steuerpflichtigen anzufordern, wenn deren Mehrwertsteuererstattungsanträge unvollständig oder unzureichend sind, nachdem die Einreichungsfrist abgelaufen ist, gegen den Grundsatz der Mehrwertsteuerneutralität und die Wirksamkeit des Rechts auf Mehrwertsteuererstattung gemäß der Richtlinie 2008/9 verstößt.
Darüber hinaus betonte die Kommission, dass das Recht auf Vorsteuerabzug oder -erstattung ein Grundprinzip des EU-Mehrwertsteuersystems ist und dass es nach der Rechtsprechung des EuGH gewährt werden sollte, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, auch wenn formale Fehler oder Auslassungen vorliegen. Deutschland verstoße gegen die EU-Mehrwertsteuervorschriften, wenn es unvollständige Anträge automatisch ablehne, ohne zusätzliche Unterlagen und Informationen anzufordern.
Darüber hinaus fügte die Kommission hinzu, dass die EU-Länder nach den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit zusätzliche Informationen von den Steuerpflichtigen anfordern müssen, wenn Zweifel bestehen, ob die Voraussetzungen für eine Mehrwertsteuererstattung erfüllt sind.
Deutschland widersprach diesen Argumenten mit dem Hinweis, dass seine Verwaltungspraxis mit den EU-Vorschriften und der Rechtsprechung des EuGH im Einklang stehe und dass seine Vorgehensweise die Wirksamkeit der Richtlinie 2008/9 nicht beeinträchtige.
In Bezug auf die Forderungen beider Parteien betonte der EuGH, dass das Recht auf Erstattung oder Vorsteuerabzug ein Grundprinzip des EU-Mehrwertsteuersystems ist. Das System ist darauf ausgerichtet, die Steuerpflichtigen bei ihren wirtschaftlichen Tätigkeiten vollständig von der Mehrwertsteuer zu entlasten und so die Steuerneutralität unabhängig vom Zweck oder Ergebnis dieser Tätigkeiten zu gewährleisten. Außerdem ist das Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer in einem anderen EU-Land gleichwertig mit dem Recht auf Vorsteuerabzug im Heimatland.
Darüber hinaus bestätigte der EuGH, dass nach dem Grundsatz der Mehrwertsteuerneutralität eine Erstattung gewährt werden muss, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn die Steuerpflichtigen bestimmte Formalitäten nicht erfüllen. Der EuGH betonte, dass die Schlüsselfrage im vorliegenden Fall nicht darin besteht, ob formale Fehler den Nachweis der Anspruchsberechtigung verhindern, sondern ob der Nachweis noch erbracht werden kann, wenn der Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer rechtzeitig eingereicht wird.
Zur dritten Rüge, die die Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes durch Deutschland betrifft, stellte der EuGH fest, dass sowohl die EU-Organe als auch die EU-Länder Rechtssicherheit und eine klare, präzise und vorhersehbare Anwendung der Rechtsvorschriften gewährleisten müssen.
Der EuGH stellte jedoch fest, dass die Kommission nicht bestritten hat, dass Deutschland den Steuerpflichtigen eine Empfangsbestätigung ausstellt, wenn sie einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer stellen, in der sie an die Verpflichtung zur Vorlage der erforderlichen Informationen und Unterlagen erinnert werden. Darüber hinaus hat die Kommission keine Beweise dafür vorgelegt, dass Deutschland seine Verwaltungspraxis in einer Weise geändert hat, die den Steuerpflichtigen rückwirkend das Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer entzieht.
Endgültige Entscheidung des Gerichts
Der EuGH stellte fest, dass zwei von drei Beschwerden der Kommission begründet waren, und urteilte, dass Deutschland gegen die EU-Mehrwertsteuervorschriften und -verordnungen verstoßen hat, indem es Mehrwertsteuererstattungsanträge abgelehnt hat, bei denen Kopien von Rechnungen oder Einfuhrdokumenten fehlten, ohne den Steuerpflichtigen zuvor Gelegenheit zu geben, die fehlenden Informationen und Dokumente einzureichen, selbst nach Ablauf der Einreichungsfrist am 30. September.
Dies bedeutet, dass alle EU-Länder, einschließlich Deutschland, die Steuerpflichtigen auffordern und ihnen die Möglichkeit geben müssen, die erforderlichen Unterlagen auch nach dem Stichtag einzureichen.
Die dritte Beschwerde der Kommission, dass Deutschland gegen den Vertrauensschutz verstoßen habe, wies der EuGH jedoch mangels Beweisen zurück.
Schlussfolgerung
Obwohl Deutschland nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen hat, stärkt das EuGH-Urteil die Rechtssicherheit. Es unterstreicht, dass die EU-Länder bestimmte Verfahrensschritte einhalten müssen, bevor sie eine endgültige Entscheidung über den Antrag auf Mehrwertsteuererstattung treffen.
Darüber hinaus zeigt der Fall den Mechanismus auf, den die Kommission nutzen kann, um durchzusetzen und sicherzustellen, dass alle EU-Länder die EU-weiten Regeln und Vorschriften in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Gesetzes anwenden, ohne die Harmonisierung des EU-Mehrwertsteuersystems zu beeinträchtigen.
Quelle: Rechtssache C-371/19 - Europäische Kommission/Bundesrepublik Deutschland, EU-Mehrwertsteuerrichtlinie, Richtlinie 2008/9

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