Rechtssache C-331/23: Auslotung der Grenzen der gesamtschuldnerischen Haftung bei Mehrwertsteuerbetrug

Am 12. Dezember 2024 verkündete der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sein Urteil in der Rechtssache C-331/23, ein bedeutendes Urteil, das das Zusammenspiel zwischen nationaler Mehrwertsteuergesetzgebung und EU-Recht beleuchtet. In dieser Rechtssache, in die das belgische Unternehmen Dranken Van Eetvelde NV verwickelt war, ging es um die Vereinbarkeit der belgischen Maßnahmen zur Durchsetzung der Mehrwertsteuer mit den wichtigsten EU-Grundsätzen, insbesondere der Verhältnismäßigkeit, der steuerlichen Neutralität und dem Schutz vor doppelter Strafverfolgung gemäß Artikel 50 der Charta der Grundrechte. Die Entscheidung hat wichtige Auswirkungen darauf, wie die Mitgliedstaaten ihre Mehrwertsteuersysteme gestalten, um Betrug zu bekämpfen und gleichzeitig die Einhaltung des EU-Rechts zu gewährleisten.
Hintergrund der Rechtssache
Dranken Van Eetvelde NV, ein im Groß- und Einzelhandel tätiges Getränkeunternehmen, sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt zu sein. Die Vorwürfe stammten aus der Ausstellung falscher Rechnungen, die im Geschäftsjahr 2011 Schwarzmarktverkäufe ermöglichten. Die belgischen Steuerbehörden verhängten gegen das Unternehmen eine gesamtschuldnerische Haftung für 173.512,56 EUR an nicht gezahlter Mehrwertsteuer, die angeblich von nicht identifizierten Dritten geschuldet wurde. Darüber hinaus wurden gemäß dem belgischen Mehrwertsteuergesetzbuch Geldbußen in Höhe von über 630 000 EUR verhängt. Das Unternehmen bestritt, dass diese Maßnahmen gegen das EU-Recht verstoßen, und focht die Veranlagung an, woraufhin die Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, afdeling Gent (Gericht erster Instanz, Ostflandern, Abteilung Gent) dem EuGH vier wichtige Fragen zur Klärung vorlegte.
Rechtlicher Rahmen
Das belgische Mehrwertsteuergesetzbuch, wie es im vorliegenden Fall angewandt wurde, enthält strenge Maßnahmen zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs, insbesondere durch Artikel 51bis Absatz 4, der eine gesamtschuldnerische Haftung der Steuerpflichtigen vorsieht, die wussten oder hätten wissen müssen, dass ihre Umsätze mit betrügerischen Machenschaften verbunden waren. Diese Bestimmung ermöglicht es den belgischen Steuerbehörden, Unternehmen nicht nur für ihre eigenen Mehrwertsteuerverpflichtungen zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch für die von anderen Parteien innerhalb der Lieferkette geschuldete Mehrwertsteuer. Mit diesem strengen Ansatz will das belgische Recht eine wirksame Steuererhebung gewährleisten und von betrügerischen Praktiken abschrecken.
Der bedingungslose Charakter dieser Bestimmung hat jedoch Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem EU-Recht, insbesondere mit Artikel 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie (Richtlinie 2006/112/EG), aufgeworfen. Die Richtlinie erlaubt es den Mitgliedstaaten zwar, eine gesamtschuldnerische Haftung vorzuschreiben, verlangt aber, dass solche Maßnahmen grundlegende EU-Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit, Rechtssicherheit und Steuerneutralität beachten. Die belgische Gesetzgebung wurde kritisiert, weil sie keine angemessenen Garantien für Steuerzahler bietet, um nachzuweisen, dass sie in gutem Glauben gehandelt oder alle angemessenen Schritte unternommen haben, um eine Beteiligung an betrügerischen Transaktionen zu verhindern. Dieser Mangel an Schutzmaßnahmen birgt die Gefahr, dass Unternehmen ungerecht bestraft werden, ihr Recht auf Vorsteuerabzug verletzt wird und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit untergraben wird.
Diese Diskrepanzen haben dazu geführt, dass dem EuGH Fragen vorgelegt wurden, um zu klären, ob die belgischen Maßnahmen mit dem EU-Recht vereinbar sind. Mit der Vorlage soll geklärt werden, ob die uneingeschränkte Anwendung der gesamtschuldnerischen Haftung nach belgischem Recht ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs und dem Schutz der legitimen Rechte und Interessen der in der EU tätigen Unternehmen herstellt.
Die Fragen
Das Gericht erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent, ersucht den EuGH um Auskunft zu folgenden Fragen:
(1) Verstößt Artikel 51bis Absatz 4 des [MwSt.-Gesetzbuchs] gegen Artikel 205 [der MwSt.-Richtlinie] in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, soweit diese Bestimmung eine unbedingte Gesamthaftung vorsieht und es dem Gericht nicht erlaubt, die Haftung auf der Grundlage des Beitrags jeder einzelnen Person zum Steuerbetrug zu beurteilen?
(Verstößt Art. 51bis Abs. 4 MwStSystRL gegen Art. 205 MwStSystRL in Verbindung mit dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, wenn diese Vorschrift dahin auszulegen ist, dass eine Person anstelle des Steuerschuldners gesamtschuldnerisch für die Mehrwertsteuer haftet, ohne dass der vom Steuerschuldner geltend gemachte Vorsteuerabzug berücksichtigt werden muss?
(Ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die es zulässt, dass (verwaltungsrechtliche und strafrechtliche) Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter, die sich aus verschiedenen Verfahren ergeben, in Bezug auf im Wesentlichen identische, aber in aufeinander folgenden Jahren begangene Straftaten (die im Strafrecht als eine fortgesetzte Straftat mit einheitlichem Zweck angesehen würden) kombiniert werden, wenn die Straftaten in einem Jahr verwaltungsrechtlich und in einem anderen Jahr strafrechtlich verfolgt werden? Sind diese Straftaten nicht als untrennbar anzusehen, weil sie in aufeinanderfolgenden Jahren begangen wurden?
(Ist Artikel 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Geldbuße mit strafrechtlichem Charakter wegen einer Straftat eingeleitet werden kann, wegen der sie bereits strafrechtlich rechtskräftig verurteilt worden ist? die beiden Verfahren völlig unabhängig voneinander durchgeführt werden und die einzige Garantie dafür, dass die Schwere der Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht, darin besteht, dass das Finanzgericht eine materielle Prüfung der Verhältnismäßigkeit vornehmen kann, obwohl die nationale Regelung keine diesbezügliche Regelung vorsieht und auch keine Regelung vorsieht, die es der Verwaltungsbehörde erlaubt, die bereits verhängte strafrechtliche Sanktion zu berücksichtigen?'
Verhältnismäßigkeit und gesamtschuldnerische Haftung
Die erste Frage, die dem Gericht gestellt wurde, betraf die Frage, ob Artikel 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie es den nationalen Rechtsvorschriften erlaubt, eine gesamtschuldnerische Haftung zu verhängen, ohne den individuellen Beitrag des Steuerpflichtigen zum Mehrwertsteuerbetrug zu bewerten. Der EuGH betonte, dass die Mitgliedstaaten zwar über einen Ermessensspielraum bei der Durchführung von Maßnahmen nach Artikel 205 verfügen, diese Maßnahmen jedoch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen. Die Haftung kann nicht strikt oder bedingungslos auferlegt werden; die Unternehmen müssen die Möglichkeit haben, nachzuweisen, dass sie alle angemessenen Vorkehrungen getroffen haben, um eine Beteiligung an betrügerischen Tätigkeiten zu vermeiden. Dieser Schutz ist von entscheidender Bedeutung, um rechtmäßige Unternehmen vor unangemessenen Strafen zu schützen und eine gerechte Steuerdurchsetzung zu gewährleisten.
Steuerliche Neutralität und Vorsteuer
In der zweiten Frage wurde untersucht, ob das belgische Recht gegen den Grundsatz der Steuerneutralität verstößt, da es das Recht des Hauptschuldners auf Vorsteuerabzug bei der Auferlegung der gesamtschuldnerischen Haftung nicht berücksichtigt. Die Steuerneutralität ist ein Eckpfeiler des EU-Mehrwertsteuersystems, der sicherstellt, dass Unternehmen nicht in ungerechtfertigter Weise durch die MwSt-Kosten belastet werden. Das Gericht stellte klar, dass die Haftung nach Artikel 205 dem Gesamtschuldner kein Recht auf Vorsteuerabzug einräumt, wenn das Recht des Hauptschuldners auf Vorsteuerabzug aufgrund von Betrug entfällt. Auf diese Weise bringt das Urteil die Durchsetzung der MwSt-Vorschriften in Einklang mit dem übergeordneten Ziel, die Ausnutzung des MwSt-Systems durch betrügerische Machenschaften zu verhindern.
Non bis in idem und kombinierte Sanktionen
Die dritte Frage bezog sich auf die Anwendung des Grundsatzes non bis in idem, der eine doppelte Strafverfolgung in Fällen verbietet, in denen sowohl verwaltungsrechtliche als auch strafrechtliche Sanktionen für zusammenhängende Straftaten verhängt werden. Artikel 50 der Charta stellt sicher, dass Personen nicht zweimal für dieselben Handlungen bestraft werden. In diesem Fall stellte der EuGH fest, dass dieser Grundsatz nicht verletzt wurde, da die verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen unterschiedliche Steuerzeiträume und Sachverhalte betrafen. Diese Unterscheidung unterstreicht, wie wichtig es ist, Straftaten zeitlich und inhaltlich zu trennen, um die Einhaltung der EU-Rechtsnormen zu gewährleisten.
Kumulative Sanktionen und Verhältnismäßigkeit
Die vierte Frage betraf die Verhältnismäßigkeit aufeinander folgender verwaltungs- und strafrechtlicher Sanktionen für ein und dieselbe Straftat. Das Gericht hat diese Frage zwar nicht ausdrücklich geklärt, aber es hat betont, wie wichtig es ist, sicherzustellen, dass die Strafen der Schwere des Verstoßes angemessen sind und nicht zu übermäßigen oder doppelten Maßnahmen führen. Die Mitgliedstaaten müssen die Durchsetzungsmaßnahmen koordinieren, um die Ziele einer wirksamen Steuererhebung und des Schutzes der Rechte der Steuerzahler miteinander in Einklang zu bringen.
Die praktischen Auswirkungen des Urteils
Dieses Urteil hat erhebliche Auswirkungen auf die Betroffenen in der gesamten EU.
Für Unternehmen unterstreicht es die entscheidende Bedeutung solider Compliance-Systeme. Die Unternehmen müssen mit der gebotenen Sorgfalt vorgehen, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht versehentlich mit Mehrwertsteuerbetrug einhergehen. Das Urteil unterstreicht die Notwendigkeit für Unternehmen, detaillierte Aufzeichnungen zu führen und strenge interne Kontrollen einzuführen, um das Haftungsrisiko zu mindern.
Für die Steuerbehörden bietet die Entscheidung eine Anleitung für die Gestaltung von Durchsetzungsmaßnahmen, die mit den EU-Grundsätzen in Einklang stehen. Die Behörden müssen ein Gleichgewicht zwischen der Betrugsbekämpfung und der Wahrung der Rechte der Steuerzahler finden. Transparente und verhältnismäßige Durchsetzungskriterien können dazu beitragen, Streitigkeiten zu minimieren und die Einhaltung der Vorschriften durch die Unternehmen zu fördern.
Für Juristen ist dieses Urteil von unschätzbarem Wert, wenn es darum geht, ihre Mandanten über die Einhaltung der MwSt-Vorschriften zu beraten und überhöhte Strafen anzufechten. Die Betonung der Verhältnismäßigkeit durch das Gericht bietet einen Rahmen für die Anfechtung von Maßnahmen, die den Steuerzahler übermäßig belasten.
Darüber hinaus unterstreicht das Urteil die Notwendigkeit für die Mitgliedstaaten, ihre Praktiken zur Durchsetzung der Mehrwertsteuer mit dem EU-Recht zu harmonisieren, insbesondere bei der Behandlung komplexer Betrugsfälle.
Schlussfolgerung
Indem er sich mit den Grenzen der gesamtschuldnerischen Haftung befasste, bekräftigte der EuGH das Gleichgewicht zwischen einer wirksamen Steuervollstreckung und der Einhaltung grundlegender EU-Prinzipien wie der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität. Dieses Urteil stellt sicher, dass die Mitgliedstaaten Mehrwertsteuerbetrug wirksam bekämpfen und gleichzeitig die Rechte rechtmäßiger Unternehmen wahren können. Im Zuge der Weiterentwicklung der Mehrwertsteuersysteme in der EU wird dieses Urteil ein guter Bezugspunkt für die Entwicklung fairer und wirksamer Durchsetzungspraktiken sein.

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