Übertragung von Mehrwertsteuerüberschüssen: Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Rechtssache C-680/23 des EuGH

Einleitung
Am 5. Dezember 2024 erließ der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ein Urteil in der Rechtssache Modexel - Consultores e Serviços SA gegen Autoridade Tributária e Assuntos Fiscais da Região Autónoma da Madeira (C-680/23). In der Rechtssache ging es um die Auslegung von Artikel 183 der MwSt-Richtlinie (2006/112/EG), insbesondere in Bezug auf das Recht auf Übertragung von MwSt-Überschüssen nach Einstellung und Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit. Das Urteil hat erhebliche Auswirkungen für Steuerpflichtige in der EU, da es die Grenzen für die Übertragung von MwSt-Überschüssen klarstellt.
Hintergrund des Falles
Fakten und Umstände
Modexel - Consultores e Serviços SA stellte seine wirtschaftliche Tätigkeit am 28. Februar 2015 ein, während es ein überschüssiges MwSt.-Guthaben in Höhe von 12.456,20 € aufwies. Dieser MwSt.-Überschuss wurde in der letzten MwSt.-Erklärung vor der Einstellung der Tätigkeit angegeben. Das Unternehmen beantragte zum Zeitpunkt der Einstellung der Geschäftstätigkeit keine Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses, sondern behielt das Guthaben ein.
Am 10. Mai 2016 nahm Modexel seine wirtschaftliche Tätigkeit wieder auf. Bei der Einreichung seiner ersten Mehrwertsteuererklärung nach der Wiederaufnahme versuchte das Unternehmen, den zuvor erklärten Mehrwertsteuerüberschuss von seinen neuen Mehrwertsteuerverbindlichkeiten abzuziehen. Die portugiesische Steuerbehörde verweigerte jedoch den Abzug mit der Begründung, dass nach portugiesischem Mehrwertsteuerrecht der Mehrwertsteuerüberschuss innerhalb von 12 Monaten nach der Einstellung der wirtschaftlichen Tätigkeit geltend gemacht werden muss. Da Modexel innerhalb dieser Frist keine Erstattung beantragt hatte, betrachtete die Steuerbehörde die überschüssige Mehrwertsteuer als verwirkt.
Modexel erhob daraufhin Klage vor dem Verwaltungs- und Steuergericht Funchal, das die Angelegenheit dem EuGH zur Vorabentscheidung über die Auslegung des Begriffs "Folgezeitraum" gemäß Artikel 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorlegte.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Mehrwertsteuergrundsätze und Artikel 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie
Nach der MwSt-Richtlinie sind Unternehmen, die für MwSt-Zwecke registriert sind, berechtigt, die Vorsteuer von der Ausgangssteuer abzuziehen. Artikel 183 besagt, dass die Mitgliedstaaten, wenn in einem bestimmten Steuerzeitraum der Betrag der abgezogenen Mehrwertsteuer die geschuldete Mehrwertsteuer übersteigt, den Überschuss entweder erstatten oder auf einen folgenden Zeitraum übertragen können. Die Richtlinie überlässt jedoch die Bedingungen für Erstattungen und Übertragungen weitgehend dem Ermessen der nationalen Behörden.
In Artikel 9 Absatz 1 der MwSt-Richtlinie wird ein Steuerpflichtiger als jeder definiert, der eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von deren Zweck oder Ergebnis selbständig ausübt. Nach Artikel 213 Absatz 1 sind Steuerpflichtige verpflichtet, den Steuerbehörden die Aufnahme, Änderung oder Beendigung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mitzuteilen. Darüber hinaus erlaubt Artikel 252 den Mitgliedstaaten, Steuerzeiträume von bis zu einem Jahr festzulegen, wobei die Fristen für die Abgabe der MwSt-Erklärung höchstens zwei Monate nach Ablauf des jeweiligen Steuerzeitraums betragen dürfen.
Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung die Neutralität der Mehrwertsteuer als grundlegendes Prinzip bezeichnet, was bedeutet, dass die Mehrwertsteuer nicht zu einer finanziellen Belastung für Unternehmen werden darf, die steuerpflichtige Tätigkeiten ausüben. Das Recht auf Vorsteuerabzug muss jedoch im Einklang mit den von den Mitgliedstaaten festgelegten Verfahrensregeln ausgeübt werden, sofern diese nicht gegen die EU-Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität verstoßen.
Portugiesisches Mehrwertsteuerrecht
Das portugiesische Mehrwertsteuergesetzbuch (Artikel 22) setzt Artikel 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in nationales Recht um. Nach portugiesischem Recht:
- Überschüssige Mehrwertsteuer aus einem Steuerzeitraum wird im Allgemeinen auf die folgenden Zeiträume übertragen.
- Stellt eine Einrichtung ihre wirtschaftliche Tätigkeit ein, hat sie 12 Monate ab dem Datum der Einstellung Zeit, um die Erstattung der überschüssigen Mehrwertsteuer zu beantragen.
- Wird innerhalb dieses Zeitraums keine Erstattung beantragt, verfällt die überschüssige Mehrwertsteuer.
Mit diesen Bestimmungen soll sichergestellt werden, dass Mehrwertsteuererstattungen effizient abgewickelt werden, und gleichzeitig soll verhindert werden, dass die Unternehmen die Beantragung überschüssiger Mehrwertsteuer auf unbestimmte Zeit aufschieben.
Die wichtigsten Rechtsfragen und die Analyse des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
1. Auslegung des Begriffs "Folgezeitraum"
Eine der wichtigsten Fragen in dieser Rechtssache war die Auslegung des Begriffs "Folgezeitraum" gemäß Artikel 183 der MwSt-Richtlinie. Die grundlegende Frage war, ob dieser Begriff strikt als der nächste Steuerzeitraum in der Folge zu verstehen ist oder ob er einen längeren Zeitraum zulässt, insbesondere in Situationen, in denen ein Unternehmen seine Tätigkeit einstellt und später wieder aufnimmt.
Der EuGH entschied, dass der Begriff "Folgezeitraum" eng auszulegen ist, d. h. als der Steuerzeitraum, der unmittelbar auf den Zeitraum folgt, in dem der Mehrwertsteuerüberschuss entstanden ist. Diese Auslegung gewährleistet die Kontinuität und Vorhersehbarkeit der MwSt-Verwaltung in den Mitgliedstaaten und verhindert unangemessene Verzögerungen bei der MwSt-Abrechnung.
Der Gerichtshof stellte dies weiter klar und erklärte Folgendes:
- Der Begriff "Folgezeitraum" ist unabhängig davon, ob die wirtschaftliche Tätigkeit eines Steuerpflichtigen kontinuierlich oder unterbrochen ist.
- Sobald ein Steuerpflichtiger seine Tätigkeit einstellt, verliert er seinen MwSt.-Status, was bedeutet, dass es keinen "Folgezeitraum" für die Übertragung von MwSt.-Überschüssen gibt.
- Nimmt ein Unternehmen zu einem späteren Zeitpunkt seine wirtschaftliche Tätigkeit wieder auf, so bildet dies einen neuen Besteuerungszeitraum, der sich von dem vorangegangenen Zeitraum, in dem die überschüssige Mehrwertsteuer angefallen ist, unterscheidet.
Der Gerichtshof betonte, dass das Grundprinzip der Mehrwertsteuer darin besteht, dass sie für laufende wirtschaftliche Tätigkeiten gilt, und dass der Rahmen keine unbegrenzte Übertragung von Ansprüchen über die vorgeschriebenen Grenzen hinaus zulässt.
2. Grenzen für die Rückforderung überschüssiger Mehrwertsteuer bei Wiederaufnahme der Tätigkeit
Ein weiterer kritischer Aspekt des Urteils war die Bestätigung, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Bedingungen für die Mehrwertsteuererstattung einen Ermessensspielraum haben. Diese Bedingungen müssen jedoch zwei grundlegende Prinzipien einhalten:
- Äquivalenz: Die einzelstaatlichen Vorschriften für die Mehrwertsteuererstattung dürfen nicht ungünstiger sein als die Vorschriften für ähnliche inländische Forderungen.
- Effektivität: Die nationalen Vorschriften dürfen den Steuerpflichtigen die Erstattung der Mehrwertsteuer nicht übermäßig erschweren oder unmöglich machen.
Der EuGH prüfte Portugals 12-monatige Frist für die Rückforderung überschüssiger Mehrwertsteuer bei Einstellung der Geschäftstätigkeit und befand sie für angemessen und mit dem EU-Recht vereinbar. In dem Urteil wurde hervorgehoben, dass von den Steuerpflichtigen erwartet wird, dass sie sich der Erstattungsfristen bewusst sind und innerhalb der vorgeschriebenen Fristen handeln müssen, um ihre Rechte zu wahren.
Darüber hinaus hob der Gerichtshof hervor, dass die Möglichkeit für Unternehmen, überschüssige Mehrwertsteuer nach der Wiederaufnahme der Tätigkeit über die festgelegten Fristen hinaus zu übertragen, Möglichkeiten für Missbrauch und die Umgehung bestehender Steuervorschriften schaffen könnte. Er bekräftigte, dass die Beibehaltung strukturierter Fristen die Rechtssicherheit erhöht und Verzerrungen in der Mehrwertsteuerverwaltung verhindert.
Auswirkungen des Urteils
Für Steuerpflichtige
Dieses Urteil unterstreicht die Bedeutung eines wirksamen MwSt.-Guthabenmanagements für Unternehmen. Unternehmen, die planen, ihre Geschäftstätigkeit einzustellen, müssen ihre Mehrwertsteuerposition proaktiv bewerten und rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um die überschüssige Mehrwertsteuer innerhalb der vorgeschriebenen Frist zurückzuerhalten. Geschieht dies nicht, kann dies zum unwiderruflichen Verlust von Mehrwertsteuerguthaben führen, was sich auf die Finanzplanung und den Cashflow auswirken kann.
Außerdem sollten Unternehmen, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit wieder aufnehmen, nicht davon ausgehen, dass zuvor angesammelte Mehrwertsteuergutschriften für künftige Abzüge verfügbar bleiben. Das Urteil stellt klar, dass ein vor der Einstellung der Tätigkeit erklärter Mehrwertsteuerüberschuss bei der Wiederaufnahme der Tätigkeit nicht vorgetragen werden kann. Stattdessen sollten die Unternehmen die verfügbaren Erstattungsmechanismen prüfen und die nationalen Fristen einhalten, um ihre Interessen zu wahren.
Für die Steuerbehörden
Das Urteil verschafft den Steuerbehörden die dringend benötigte Klarheit über die Behandlung von Mehrwertsteuerüberschüssen bei der Einstellung der Geschäftstätigkeit von Unternehmen. Die Behörden haben nun gerichtliche Unterstützung, um die nationalen Fristen für Erstattungsanträge durchzusetzen, ohne eine Nichteinhaltung des EU-Rechts befürchten zu müssen. Außerdem wird deutlich, wie wichtig es ist, die administrative Kohärenz zu wahren und dafür zu sorgen, dass die Erstattungs- und Übertragungsmechanismen innerhalb strukturierter Fristen funktionieren, die die Rechtssicherheit fördern.
Darüber hinaus müssen die Steuerbehörden sicherstellen, dass ihre Mehrwertsteuererstattungssysteme den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität entsprechen. Die Erstattungspolitik sollte keine unangemessenen Hindernisse für die Steuerzahler schaffen, sondern muss sich an ähnlichen inländischen Steuerverfahren orientieren.
Für die Auslegung des EU-Mehrwertsteuerrechts
In diesem Urteil wird bekräftigt, dass die Mehrwertsteuer als Steuer auf die aktive Wirtschaftstätigkeit konzipiert ist. Die Möglichkeit, die Mehrwertsteuer abzuziehen oder Erstattungen zu beantragen, ist untrennbar mit dem Status eines Unternehmens als Steuerpflichtiger verbunden. Das Urteil stärkt auch den EU-Grundsatz der Mehrwertsteuerneutralität, der sicherstellt, dass Unternehmen durch die Einstellung und Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit weder begünstigt noch benachteiligt werden. Darüber hinaus behalten die Mitgliedstaaten die Flexibilität, ihre Mehrwertsteuersysteme zu gestalten, müssen dies aber im Rahmen der EU-Grundsätze tun, um eine unbegrenzte Übertragung von Mehrwertsteuerguthaben zu verhindern, die zu Steuerunsicherheiten führen könnte.
Schlussfolgerung
Das Urteil in der Rechtssache C-680/23 stellt klar, dass sich der Begriff "Folgezeitraum" gemäß Artikel 183 der MwSt-Richtlinie strikt auf den unmittelbar folgenden Steuerzeitraum bezieht. Das Urteil unterstützt nationale Vorschriften, die Steuerpflichtige dazu verpflichten, Mehrwertsteuererstattungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach Einstellung der Geschäftstätigkeit zu beantragen, und stärkt damit die Rechtssicherheit und die Verwaltungseffizienz.
Für Unternehmen unterstreicht dieser Fall die Bedeutung einer strategischen Mehrwertsteuerplanung bei der Einstellung oder Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit. Die Nichteinhaltung der nationalen Erstattungsfristen kann zum Verlust erheblicher MwSt.-Guthaben führen und die finanzielle Liquidität beeinträchtigen. Dieses Urteil ist daher ein wichtiger Bezugspunkt für Unternehmen, die im Rahmen der EU-Mehrwertsteuer tätig sind, und für politische Entscheidungsträger, die ein Gleichgewicht zwischen Steuerverwaltung und Rechten der Steuerzahler anstreben.

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