EuGH, Rechtssache C-622/23: Mehrwertsteuerpflicht für Zahlungen nach Beendigung eines Bauvertrags

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Die Mehrwertsteuer (MwSt.) ist ein Eckpfeiler des Binnenmarktes und des Steuersystems der Europäischen Union. Ihre Anwendung ist untrennbar mit dem Grundsatz der Besteuerung von Umsätzen gegen Entgelt verbunden. Doch was geschieht, wenn eine Dienstleistung aufgrund der Handlungen des Leistungsempfängers nur teilweise erbracht wurde? Sollte die Mehrwertsteuer auch auf ein vertraglich vereinbartes Entgelt erhoben werden, das (größtenteils) Leistungen abdeckt, die letztlich nicht erbracht wurden?
Diese rechtlichen und wirtschaftlichen Fragen wurden im Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 28. November 2024 in der Rechtssache C-622/23 behandelt. Dieses Urteil bietet eine grundlegende Klärung des Anwendungsbereichs von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c der MwSt-Richtlinie 2006/112/EG in Verbindung mit Artikel 73, insbesondere im Zusammenhang mit Zahlungen nach der vorzeitigen Beendigung eines Bauvertrags durch den Auftraggeber, wenn der Auftragnehmer bereits mit den Arbeiten begonnen hatte und bereit war, sie zu Ende zu führen.
Tatsachen und Umstände: Eine detaillierte Rekonstruktion
Im März 2018 schlossen zwei österreichische Unternehmen einen Bauvertrag: die rhtb: projekt gmbh (im Folgenden "rhtb"), ein Bauunternehmen, und die Parkring 14-16 Immobilienverwaltung GmbH (im Folgenden "Parkring"), ein Hausverwaltungsunternehmen. Der Vertrag sah vor, dass rhtb ein Bauvorhaben mit einem Gesamtwert von 5.377.399,69 €, einschließlich 896.233,28 € Mehrwertsteuer, durchführen sollte.
Rhtb begann mit den Arbeiten wie vereinbart. Im Juni 2018 - nur wenige Monate später - teilte Parkring rhtb jedoch mit, dass er die Fertigstellung des Projekts aus Gründen, die rhtb nicht zu vertreten hatte, nicht mehr wünschte. Dadurch wurde rhtb an der Fertigstellung des Projekts gehindert, obwohl sie dazu bereit war und ist.
Am 19. Dezember 2018 verlangte rhtb unter Berufung auf § 1168 Abs. 1 ABGB die Zahlung des vereinbarten Vertragspreises abzüglich der Ersparnisse, die sich aus der Nichtausführung der Restarbeiten ergeben. Der geforderte Betrag belief sich auf 1.540.820,10 €, einschließlich Mehrwertsteuer. Rhtb vertrat die Auffassung, dass dieser Betrag keinen Schadenersatz darstelle, sondern eine Gegenleistung für eine begonnene und teilweise ausgeführte Leistung sei, die somit in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer falle.
Die Vorinstanz entschied zu Gunsten von rhtb und stellte fest, dass die Zahlung als Gegenleistung für eine steuerpflichtige Dienstleistung anzusehen ist. Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung jedoch auf und vertrat die Auffassung, dass für nicht erbrachte Dienstleistungen keine Mehrwertsteuer geschuldet werde, da kein gegenseitiger Austausch stattgefunden habe.
Beide Parteien legten daraufhin Kassationsbeschwerde (Revision) beim Obersten Gerichtshof ein, der die Angelegenheit aufgrund von Unsicherheiten bei der Auslegung von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c und Artikel 73 der MwSt-Richtlinie im Wege der Vorabentscheidung an den EuGH verwies.
Rechtlicher Rahmen: Einschlägige EU- und nationale Bestimmungen
EU-Recht
Die rechtliche Analyse konzentriert sich auf zwei zentrale Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG:
Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c besagt, dass die Mehrwertsteuer auf die Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, erhoben wird.
Artikel 73 sieht vor, dass die Steuerbemessungsgrundlage alles umfasst, was eine Gegenleistung darstellt, die der Dienstleistungserbringer vom Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhalten hat oder erhalten soll.
Diese Bestimmungen sind in mehreren EuGH-Urteilen ausgelegt worden. Nach ständiger Rechtsprechung (z.B. C-154/80 Coöperatieve Aardappelenbewaarplaats, C-16/93 Tolsma, C-520/14 Gemeente Borsele, C-43/19 Vodafone Portugal) wird eine Dienstleistung nur dann "gegen Entgelt" erbracht, wenn ein direkter Zusammenhang zwischen einer spezifischen und individualisierten Dienstleistung und der erhaltenen Zahlung besteht.
Österreichisches Zivilrecht
Gemäß § 1168(1) ABGB hat der Auftragnehmer bei Beendigung des Vertrages aus Gründen, die der Auftraggeber zu vertreten hat, Anspruch auf das vereinbarte Entgelt - abzüglich der durch die Nichterfüllung ersparten Aufwendungen oder eines anderweitig erzielten Gewinns.
Diese Bestimmung ist entscheidend, weil sie die Zahlung nicht als Schadenersatz, sondern als Fortzahlung des vertraglich vereinbarten Entgelts ausgestaltet.
Die Vorfrage
Der österreichische Oberste Gerichtshof hat dem EuGH die folgende Frage vorgelegt:
"Ist Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der [Mehrwertsteuerrichtlinie] in Verbindung mit Art. 73 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass der Betrag, den ein Kunde einem Unternehmer auch dann schuldet, wenn das Werk nicht (vollständig) ausgeführt wurde, der Unternehmer aber bereit war, die Leistung zu erbringen, und durch Umstände, die der Kunde zu vertreten hat (z. B. Stornierung der Arbeiten), daran gehindert wurde, der Mehrwertsteuer unterliegt?"
Diese Frage berührt den Kern des EU-Mehrwertsteuerrechts: Wann liegt ein Steuertatbestand vor, und unter welchen Voraussetzungen kann eine Zahlung als "Lieferung gegen Entgelt" angesehen werden?
Das Urteil des EuGH
Der Gerichtshof hat die Frage sorgfältig untersucht und sowohl den vertraglichen Kontext als auch die zugrunde liegende wirtschaftliche Realität hervorgehoben.
Er bekräftigte, dass eine Dienstleistung "gegen Entgelt" erbracht wird, wenn ein Rechtsverhältnis mit gegenseitigen Verpflichtungen besteht und die Zahlung das tatsächliche Entgelt für eine bestimmbare Leistung darstellt. Der Gerichtshof verwies auf sein früheres Urteil in der Rechtssache Vodafone Portugal (C-43/19), in dem er festgestellt hatte, dass die Zahlungsverpflichtung auch dann besteht, wenn der Kunde die Dienstleistung nicht in Anspruch nimmt, solange das Recht zur Nutzung der Dienstleistung eingeräumt wurde.
Der Gerichtshof betonte, dass in diesem Fall der Auftragnehmer nicht nur das Recht zur Erbringung der Dienstleistung eingeräumt, sondern auch mit der Ausführung begonnen hatte. Die Unterbrechung der Leistung war auf die einseitige Entscheidung des Auftraggebers zurückzuführen. Folglich stand die vertraglich vereinbarte Vergütung (nach Abzug der Einsparungen) in unmittelbarem Zusammenhang mit der begonnenen Leistung und war somit steuerpflichtig.
Der Gerichtshof wies die Relevanz der Rechtssache Société thermale d'Eugénie-les-Bains (C-277/05) zurück, in der eine verfallene Kaution als nicht steuerbare Entschädigung angesehen wurde. In diesem Fall war die Dienstleistung (eine Hotelzimmerreservierung) noch nicht begonnen worden und nicht individualisiert. Im Gegensatz dazu hatte rhtb bereits mit konkreten Arbeiten begonnen, und die Zahlung hatte keinen Ausgleichscharakter, sondern war vertraglich und leistungsbezogen.
Der EuGH kam zu dem Schluss:
"Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der Betrag, der vertraglich geschuldet wird, nachdem der Empfänger einer Dienstleistung einen rechtsgültig geschlossenen Vertrag über diese mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistung, mit deren Erbringung der Dienstleistungserbringer begonnen hatte und zu deren Ausführung er bereit war, beendet hat, als Entgelt für eine entgeltliche Dienstleistung im Sinne der Richtlinie 2006/112 anzusehen ist."
Praktische Auswirkungen
Das Urteil in der Rechtssache C-622/23 hat erhebliche Auswirkungen auf die praktische Anwendung des Mehrwertsteuerrechts in Vertragsverhältnissen, insbesondere wenn es um langfristige Dienstleistungsverträge oder Bauprojekte geht. Es wirft ein wichtiges Licht auf die Frage, wie Steuerbehörden und Gerichte Zahlungen behandeln sollten, die nach Beendigung eines Vertrags geleistet werden - insbesondere wenn die Beendigung dem Kunden zuzuschreiben ist und der Dienstleister bereits mit der Leistungserbringung beschäftigt war.
Im Mittelpunkt dieses Urteils steht die Feststellung, dass die bloße Tatsache, dass eine Dienstleistung nicht abgeschlossen wurde, das Vorliegen eines Steuertatbestandes nicht ausschließt. Vielmehr kommt es darauf an, ob der Dienstleister bereits mit der Ausführung der Leistung begonnen hatte und ob die geleistete (oder geschuldete) Zahlung einem Recht entspricht, das dem Kunden eingeräumt wurde - nämlich dem Recht, die Leistung ausführen zu lassen. Selbst wenn dieses Recht aufgrund einer eigenen Entscheidung des Kunden letztlich nicht in vollem Umfang ausgeübt wurde, hat dies nach EU-Mehrwertsteuerrecht steuerliche Konsequenzen.
Für Unternehmen bedeutet dies, dass vertraglich vereinbarte Zahlungen, die den Wert der bereits begonnenen Leistungen widerspiegeln, nicht als bloße Entschädigung oder Schadenersatz für entgangenen Gewinn behandelt werden dürfen. Vielmehr sind sie als Gegenleistung für eine im Rahmen eines verbindlichen Rechtsverhältnisses erbrachte Leistung anzusehen. Folglich fallen solche Zahlungen in den sachlichen Anwendungsbereich der MwSt-Richtlinie und sind mehrwertsteuerpflichtig. Das Vorhandensein einer direkten Verbindung zwischen der Zahlung und der (teilweise erbrachten) Dienstleistung reicht aus, um die Steuerpflicht auszulösen.
Diese Auslegung legt den Schwerpunkt erneut darauf, wie Verträge abgefasst und wie Rechte und Pflichten in Dienstleistungsverträgen strukturiert werden. Sie ermutigt sowohl die Erbringer als auch die Empfänger von Dienstleistungen, die mehrwertsteuerlichen Folgen nicht nur bei Abschluss eines Projekts, sondern auch in jeder Phase der Ausführung und in jedem Fall einer vorzeitigen Beendigung zu prüfen. Auf diese Weise fördert das Urteil die Rechtssicherheit und stellt sicher, dass die Grundsätze der Neutralität und der steuerlichen Kohärenz des EU-Mehrwertsteuersystems gewahrt bleiben - auch in Situationen, in denen die Wirtschaftstätigkeit mitten im Prozess unterbrochen wird.
Indem der Gerichtshof bestätigt, dass solche Zahlungen im Zusammenhang mit der Beendigung von Geschäftsbeziehungen tatsächlich eine steuerpflichtige Gegenleistung darstellen können, bringt er seinen Ansatz mit der wirtschaftlichen Realität in Einklang und gibt sowohl den Steuerpflichtigen als auch den nationalen Steuerbehörden wertvolle Hinweise. Er bekräftigt den Gedanken, dass die Mehrwertsteuer eine Verbrauchssteuer ist, die flexibel auf die sich entwickelnde Dynamik des modernen Vertragsrechts und der Dienstleistungserbringung reagieren muss.
Schlussfolgerung
Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-622/23 stellt klar, dass eine Zahlung, die im Rahmen eines rechtsgültig beendeten Dienstleistungsvertrags geschuldet wird - wenn der Dienstleistungserbringer die Leistung begonnen hatte und bereit war, sie zu vollenden -, der Mehrwertsteuer unterliegt, sofern sie ein vertragliches Recht und eine begonnene Leistung widerspiegelt. Die Entscheidung unterstreicht, dass die Mehrwertsteuerpflicht nicht auf abgeschlossene Dienstleistungen beschränkt ist, sondern sich auch auf Situationen erstreckt, in denen eine Dienstleistung begonnen und aufgrund einer eigenen Entscheidung des Kunden unterbrochen wurde. Diese Auslegung unterstreicht die Bedeutung des rechtlichen und wirtschaftlichen Kontextes bei der Beurteilung der Mehrwertsteuerpflicht und bietet Unternehmen, die langfristige Dienstleistungsverträge abschließen, praktische Sicherheit.

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