EuGH bestätigt Mehrwertsteuerbefreiung für kleine nichtgewerbliche Sendungen - C-405/24

Am 8. Mai 2025 verkündete der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sein Urteil in der Rechtssache C-405/24, L. s.c. gegen Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, eine Entscheidung, die klärt, wie die Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinsendungen nichtkommerzieller Art aus Drittländern innerhalb der EU funktionieren soll. Im Mittelpunkt der Rechtssache stand die Frage des räumlichen Geltungsbereichs: Gilt die Steuerbefreiung nur, wenn der Empfänger in demselben Mitgliedstaat wohnt, in den die Waren eingeführt werden, oder kann sie auch gelten, wenn der Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat wohnt?
Das Urteil des Gerichtshofs ist eine wichtige Orientierungshilfe für die Anwendung von Artikel 143 Absatz 1 Buchstabe b der Mehrwertsteuerrichtlinie (2006/112/EG) und Artikel 1 der Richtlinie 2006/79/EG und hat möglicherweise weitreichende Folgen für Zollbehörden, Wirtschaftsbeteiligte und Verbraucher in der gesamten Europäischen Union.
Tatsächlicher Hintergrund
Der Streit entstand in Polen, wo L. s.c., ein Unternehmen, das Speditions- und Zollabfertigungsdienste anbietet, eine verbindliche Steuerentscheidung anstrebte. Es ging um die Frage, ob die Einfuhr von Kleinsendungen nichtkommerzieller Art nach Polen - die von einer Privatperson in einem Drittland an eine andere Privatperson versandt werden - in den Genuss der Mehrwertsteuerbefreiung kommen kann, wenn der Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat als Polen ansässig ist.
Nach Artikel 52 des polnischen Mehrwertsteuergesetzes ist eine Befreiung für solche Einfuhren möglich, aber die polnische Bestimmung verlangt, dass der Empfänger seinen Wohnsitz in Polen hat. Die Steuerbehörde wies den Standpunkt von L. zurück und erließ am 22. Februar 2019 einen Bescheid, in dem sie bestätigte, dass die Befreiung nicht gilt, wenn der Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.
L. focht diese Entscheidung vor dem Regionalen Verwaltungsgericht in Warschau an, das die Auslegung der Steuerbehörde mit der Begründung bestätigte, dass sowohl nach EU-Recht als auch nach polnischem Recht der Empfänger seinen Wohnsitz in demselben Mitgliedstaat haben muss wie der Ort der Einfuhr.
Unbeeindruckt davon legte L. Berufung beim Obersten Verwaltungsgericht Polens (Naczelny Sąd Administracyjny) ein, das feststellte, dass angesichts der früheren Rechtsprechung des EuGH - insbesondere Har Vaessen Douane Service (C-7/08) - das Argument vorgebracht werden könne, dass der Wohnsitzmitgliedstaat des Empfängers für die Steuerbefreiung nicht entscheidend sein sollte. Die polnische Rechtsprechung hatte die Befreiung jedoch stets enger ausgelegt.
Angesichts dieses Konflikts zwischen der innerstaatlichen Auslegung und einer potenziell weiter gefassten EU-Auslegung legte das Oberste Verwaltungsgericht die Angelegenheit dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Rechtlicher Rahmen
1. Primäres EU-Mehrwertsteuerrecht
Im Mittelpunkt des Rechtsstreits steht Artikel 143 Absatz 1 Buchstabe b der Mehrwertsteuerrichtlinie (2006/112/EG), der die Mitgliedstaaten verpflichtet, "die endgültige Einfuhr von Gegenständen, die unter die [Richtlinie 2006/79/EG] fallen", von der Mehrwertsteuer zu befreien. Die Richtlinie 2006/79/EG betrifft speziell die Einfuhr von Kleinsendungen nichtkommerzieller Art, die von Privatpersonen aus Drittländern an Privatpersonen in einem Mitgliedstaat versandt werden.
Die einschlägige Bestimmung, Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2006/79/EG, definiert diese Steuerbefreiung, ohne festzulegen, dass der Empfänger im Einfuhrmitgliedstaat ansässig sein muss. Sie legt klare Kriterien dafür fest, was eine kleine nichtgewerbliche Sendung ist:
- Gelegentlicher Charakter;
- Sie ist für den persönlichen oder familiären Gebrauch bestimmt und lässt keine kommerziellen Absichten erkennen;
- Der Gesamtwert übersteigt nicht 45 EUR;
- Versendung ohne Bezahlung durch den Empfänger.
2. Verhältnis zur Zollbefreiung
In Erwägungsgrund 3 der Richtlinie 2006/79 werden die Grenzen für die Mehrwertsteuerbefreiung ausdrücklich an die in der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates (jetzt ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates) festgelegten Grenzen für die Zollbefreiung angeglichen. Gemäß Artikel 25 der Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 sind Sendungen an Privatpersonen, die sich "im Zollgebiet der EU" befinden, von den Zöllen befreit, ebenfalls ohne Bezugnahme auf den Wohnsitzmitgliedstaat des Empfängers.
3. Polnisches Mehrwertsteuergesetz
Das polnische Mehrwertsteuergesetz (Artikel 52 Absatz 1) setzt die Steuerbefreiung um, stellt aber eine zusätzliche Bedingung: Der Empfänger muss in Polen ansässig sein. Dies war der Knackpunkt des Streits - das nationale Gesetz führte eine territoriale Beschränkung ein, die in den EU-Richtlinien nicht enthalten ist.
Die Standpunkte der Parteien und die Rechtsfrage
L. s.c. argumentierte, dass das EU-Recht eine Steuerbefreiung ohne Bezugnahme auf den Wohnsitzstaat des Empfängers vorsieht und das polnische Recht daher übermäßig restriktiv und unvereinbar mit den Richtlinien ist. Aus ihrer Sicht sollte das physische Verbringen der Waren in das EU-Zollgebiet - sei es in Polen oder einem anderen Mitgliedstaat - das Recht auf Steuerbefreiung nicht beeinträchtigen, solange die Sendung die materiellen Voraussetzungen erfüllt.
Die polnische Steuerbehörde vertrat die Auffassung, dass sowohl die EU-Bestimmungen als auch die nationalen Vorschriften einen territorialen Bezug vorsehen: Die Steuerbefreiung gilt nur, wenn der Empfänger im Einfuhrmitgliedstaat ansässig ist. Nach dieser Auffassung ist die Formulierung "in einem Mitgliedstaat" in der Richtlinie 2006/79 in Verbindung mit dem Ort der Einfuhr zu lesen, so dass ein Zusammenhang zwischen Wohnsitz und Einfuhr besteht.
Die Rechtsfrage des vorlegenden Gerichts an den EuGH lautete daher, ob Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 und Art. 1 der Richtlinie 2006/79 einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Mehrwertsteuerbefreiung versagt, wenn der Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Einfuhr ansässig ist.
Die Analyse des Gerichtshofs
Der EuGH ging an die Frage mit seiner bewährten Methode heran: Er untersuchte den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen, ihren rechtlichen Kontext und die ihnen zugrunde liegenden Ziele.
Wortlaut der Bestimmungen
Der Gerichtshof stellte fest, dass in Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2006/79 auf Sendungen an Privatpersonen "in einem Mitgliedstaat" Bezug genommen wird, ohne zu präzisieren, welcher Mitgliedstaat gemeint ist. In den meisten Sprachfassungen wird der Begriff durch einen unbestimmten Artikel ergänzt, der das Fehlen eines bestimmten territorialen Bezugs signalisiert. Im Gegensatz dazu wird in anderen Bestimmungen der MwSt-Richtlinie - z. B. in den Artikeln 32, 86 und 163 - ausdrücklich auf den "Einfuhrmitgliedstaat" Bezug genommen, was beweist, dass der Gesetzgeber bewusst eine solche Formulierung verwendet, wenn er eine solche Beschränkung vornehmen will.
Aus dieser textlichen Perspektive scheint der Anwendungsbereich der Steuerbefreiung nicht auf den Einfuhrmitgliedstaat beschränkt zu sein.
Gesetzgeberischer Kontext
Der EuGH verwies auf die Ursprünge der Regelung in der Richtlinie 78/1035/EWG und ihren Vorarbeiten. Die Absicht bestand darin, eine Befreiung für nichtgewerbliche Sendungen von geringem Wert zwischen Privatpersonen zu gewähren, ohne zwischen Bestimmungsorten innerhalb der EU zu unterscheiden. Die Bezugnahme auf "einen Mitgliedstaat" sollte die Befreiung nicht an den Wohnsitz des Empfängers knüpfen.
Erwägungsgrund 3 der Richtlinie 2006/79 bekräftigt dieses Verständnis, indem er die Mehrwertsteuerbefreiungen an die Vorschriften über Zollbefreiungen anpasst, die keine derartige Bedingung in Bezug auf den Wohnsitz stellen. Artikel 25 der Verordnung 1186/2009 befreit Sendungen an Privatpersonen überall im Zollgebiet der EU, unabhängig davon, wo sie in die Union gelangen.
Ziel der Befreiung
Ziel der Steuerbefreiung ist die Vereinfachung und Harmonisierung der Behandlung von kleinen, nichtgewerblichen Sendungen, die oft einen persönlichen oder sentimentalen Wert haben und im Allgemeinen einen geringen Geldwert aufweisen. Sie können bereits im Herkunftsland besteuert worden sein, und sie in der EU den Mehrwertsteuerformalitäten zu unterwerfen, würde eine unverhältnismäßige Belastung bedeuten.
Aus dieser teleologischen Perspektive untergräbt die Einführung einer Bedingung, die auf dem Wohnsitz des Empfängers basiert, das Ziel der Vereinfachung und birgt die Gefahr einer Fragmentierung des Binnenmarktes.
Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass das EU-Recht nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die Mehrwertsteuerbefreiung auf Sendungen beschränken, bei denen der Empfänger im Einfuhrmitgliedstaat wohnt. Das polnische Erfordernis, dass der Empfänger seinen Wohnsitz in Polen haben muss, ist daher nicht mit dem EU-Recht vereinbar.
Diese Auslegung bedeutet, dass die Steuerbefreiung für jede qualifizierte nichtgewerbliche Kleinsendung gilt, die aus einem Drittland an eine Privatperson in der EU versandt wird, unabhängig davon, wo in der Union der Empfänger wohnt.
Auswirkungen in der Praxis
Für Spediteure, Zollagenten und Postbetreiber entfällt mit dieser Entscheidung ein Verwaltungsaufwand: Sie müssen nicht mehr den Wohnsitzmitgliedstaat des Empfängers für die Zwecke der Befreiung überprüfen. Dies vereinfacht die Bearbeitung, insbesondere bei Sendungen, die auf dem Weg in einen anderen Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat passieren können.
Für die Unternehmen gewährleistet das Urteil eine einheitliche Anwendung der Steuerbefreiung und verringert das Risiko einer uneinheitlichen Behandlung in der EU. Sie öffnet auch die Tür zu mehr grenzüberschreitenden Geschenksendungen und Sendungen von geringem Wert aus Drittländern, da die Absender darauf vertrauen können, dass die Befreiung unabhängig vom Standort des Empfängers innerhalb der Union gilt.
Mitgliedstaaten mit ähnlich restriktiven Bestimmungen werden ihre Gesetze ändern müssen, um dem Urteil nachzukommen. Andernfalls könnten sie sich Vertragsverletzungsverfahren oder Anfechtungen vor nationalen Gerichten ausgesetzt sehen. Gleichzeitig müssen die Zollbehörden weiterhin auf mögliche Missbräuche achten, z. B. auf Versuche, kommerzielle Sendungen als private Geschenke zu tarnen, um die Ausnahmeregelung auszunutzen.
Schlussfolgerung
Das Urteil in der Rechtssache C-405/24 bekräftigt den Grundsatz, dass die Mehrwertsteuerbefreiung für kleine, nichtkommerzielle Sendungen aus Drittländern innerhalb der EU bestimmungsneutral ist. Die Auslegung des Gerichtshofs steht nicht nur im Einklang mit dem Wortlaut und dem Kontext der einschlägigen Richtlinien, sondern unterstützt auch das übergeordnete Ziel, den grenzüberschreitenden Austausch von Waren von geringem Wert zu nichtgewerblichen Zwecken zu erleichtern, ohne unnötige steuerliche Belastungen aufzuerlegen.
In praktischer Hinsicht harmonisiert dieses Urteil die Anwendung der Steuerbefreiung in der gesamten Union, stärkt die Rechtssicherheit für Unternehmen und Privatpersonen und bekräftigt, dass die Verwaltungsvereinfachung ein zentraler Wert der Mehrwertsteuer- und Zollregelungen der EU ist.
EuGH - C-405/24 - ECLI:EU:C:2025:335 - Mehrwertsteuer auf Kleinsendungen verstößt gegen EU-Recht >> https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:62024CJ0405

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