Auswirkungen der Mehrwertsteuer auf unentgeltliche juristische Dienstleistungen in der EU - Rechtssache C-744/23

Der Preis der kostenlosen Prozesskostenhilfe: Auswirkungen der Mehrwertsteuer auf Pro-Bono-Dienstleistungen in der EU
An der Schnittstelle von Prozesskostenhilfe, Fairness und Mehrwertsteuerrecht stellt sich eine täuschend einfache Frage: Kann eine für einen Mandanten unentgeltlich erbrachte Rechtsdienstleistung auch dann der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn ein Dritter - aufgrund gesetzlicher Verpflichtung - eine gesetzliche Mindestgebühr an den Dienstleister zahlt? Dies ist die Kernfrage in der Rechtssache C-744/23, die derzeit vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anhängig ist.
Der Fall hat seinen Ursprung in Bulgarien und betrifft eine Ein-Personen-Kanzlei, die einem finanziell benachteiligten Mandanten pro bono eine Rechtsvertretung anbot. Nach bulgarischem Recht ist eine solche Vertretung unentgeltlich zulässig, wenn sich der Mandant die Rechtsberatung nicht leisten kann. Als der Mandant den Fall gewann, ordnete das Gericht jedoch an, dass die unterlegene Partei eine gesetzliche Mindestgebühr von 400 BGN direkt an den Anwalt zu zahlen hatte.
Der Anwalt, der für Mehrwertsteuerzwecke registriert ist, beantragte beim Gericht, das Urteil dahingehend zu ändern, dass die Mehrwertsteuer auf das zugesprochene Honorar einbezogen wird. Die unterlegene Partei erhob Einspruch mit der Begründung, dass die Dienstleistung unentgeltlich erbracht worden sei und daher keine Mehrwertsteuer anfallen könne. Das Bezirksgericht Sofia, das mit widersprüchlichen Auslegungen des nationalen und des EU-Mehrwertsteuerrechts konfrontiert war, legte dem EuGH vier Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Rechtlicher Kontext: Mehrwertsteuerrecht und die Rolle der Gegenleistung
Nach der Richtlinie 2006/112/EG unterliegen Dienstleistungen, die von einem Steuerpflichtigen gegen Entgelt erbracht werden, grundsätzlich der Mehrwertsteuer. Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c legt das Grundprinzip fest, während Artikel 9 Absatz 1 den Begriff des Steuerpflichtigen definiert, der jede natürliche oder juristische Person umfasst, die selbstständig eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Artikel 73 stellt klar, dass die Gegenleistung nicht nur vom unmittelbaren Empfänger der Dienstleistung, sondern auch von einem Dritten erbracht werden kann, sofern sie mit der Erbringung der Dienstleistung in Zusammenhang steht. Darüber hinaus sieht Artikel 26 Absatz 1 Buchstabe b) vor, dass auch unentgeltliche Dienstleistungen in bestimmten Fällen als steuerpflichtig behandelt werden können, z. B. wenn sie für den privaten Gebrauch oder für unternehmensfremde Zwecke erbracht werden.
In Bulgarien ist nach dem Rechtsanwaltsgesetz unter bestimmten Umständen eine unentgeltliche Vertretung möglich. Gewinnt der Mandant jedoch den Prozess, kann das Gericht anordnen, dass die gegnerische Partei dem Anwalt eine gesetzliche Mindestgebühr zu zahlen hat, die auf der Grundlage nationaler Vorschriften festgelegt wird. Nach denselben Vorschriften gilt die Mehrwertsteuer als untrennbarer Bestandteil der Vergütung des Anwalts, wenn der Anwalt für die Mehrwertsteuer registriert ist.
Die erste Frage, die sich dem Gerichtshof stellt, ist, ob diese gesetzliche Gebühr - die nicht vertraglich, sondern von Rechts wegen gewährt wird, von einem Dritten gezahlt wird und von einem erfolgreichen Ausgang des Verfahrens abhängt - als Gegenleistung im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden kann.
Die Ansicht des Generalanwalts: Wirtschaftliche Substanz überwiegt
In ihren Schlussanträgen vom 8. Mai 2025 hat Generalanwältin Juliane Kokott eine umfassende und grundsätzliche Auslegung des Rechtsrahmens vorgenommen. Sie kam zu dem Schluss, dass eine von einem Dritten im Rahmen einer Pro-bono-Vertretung gezahlte gesetzliche Gebühr nach wie vor eine Gegenleistung im Sinne der Mehrwertsteuer darstellt. Ihre Argumentation stützte sich auf mehrere Kernpunkte.
Erstens betonte Kokott, dass die Mehrwertsteuer eine Steuer auf den Verbrauch und nicht auf Verträge ist. Sie zielt darauf ab, den Wert einer Leistung zu erfassen, die eine Partei erhält und für die eine andere Partei - direkt oder indirekt - bezahlt. Im vorliegenden Fall wurden tatsächlich juristische Dienstleistungen erbracht, und der Anwalt erhielt letztlich eine Zahlung, wenn auch nicht vom Mandanten. Die Tatsache, dass der Mandant nicht gezahlt hat, ist irrelevant; entscheidend ist, dass der Anwalt ein Honorar für eine klar definierte und konsumierbare Leistung erhalten hat.
Zweitens wies sie das Argument zurück, dass die Ungewissheit der Zahlung die Steuerbarkeit der Dienstleistung ausschließe. Zwar wurde das gesetzliche Honorar nur bei einem erfolgreichen Ausgang des Verfahrens gezahlt, doch ist diese Art der Konditionalität dem Mehrwertsteuerrecht nicht fremd. Die Richtlinie erlaubt die Festsetzung der Mehrwertsteuer bei tatsächlichem Zahlungseingang (Kassenbuchführung), und die frühere Rechtsprechung hat festgestellt, dass eine solche Ungewissheit nicht den zugrunde liegenden Charakter einer Dienstleistung als "gegen Entgelt" aufhebt.
Drittens zog Kokott Vergleiche zu früheren EuGH-Rechtssachen wie Tolsma (C-16/93), bei der es um freiwillige Straßenspenden ging, und Baštová (C-432/15), bei der es um einen Preis bei einem Pferderennen ging. Sie argumentierte, dass sich diese Präzedenzfälle grundlegend unterscheiden. In der Rechtssache Tolsma wurde das Geld freiwillig gespendet, ohne dass eine rechtliche Verpflichtung oder eine vorher festgelegte Leistung bestand. In der Rechtssache Baštová war der Preis keine Vergütung für eine bestimmte Leistung, sondern eine Belohnung, die auf dem Ergebnis und nicht auf der Leistung beruhte. Im Gegensatz dazu war das gesetzliche Honorar im vorliegenden Fall gesetzlich festgelegt, direkt an die Leistung des Anwalts und den Erfolg des Mandanten gebunden und unabhängig vom Willen der unterlegenen Partei zu zahlen. Kokott betonte, dass der rechtliche Rahmen selbst - in diesem Fall das bulgarische Recht - die notwendige Beziehung zwischen dem Anwalt, dem Mandanten und dem Drittzahler schuf. Ein Vertrag zwischen dem Anwalt und der unterlegenen Partei war nicht erforderlich. Die durch die Kostenentscheidung des Gerichts auferlegte rechtliche Verpflichtung reiche aus, um die für Mehrwertsteuerzwecke erforderliche Gegenseitigkeit herzustellen. Sie kam zu dem Schluss, dass die gesetzliche Zahlung als steuerpflichtiges Entgelt anzusehen ist, auch wenn sie durch den Erfolg des Verfahrens ausgelöst und von einem anderen als dem Mandanten gezahlt wurde.
Auswirkungen auf Praxis und Politik
Folgt der EuGH der Argumentation des Generalanwalts, wird das Urteil erhebliche Auswirkungen auf die mehrwertsteuerliche Behandlung von Rechtsdienstleistungen in der EU haben. Es würde festlegen, dass Rechtsdienstleistungen, die pro bono angeboten werden, nicht automatisch aus dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer herausfallen, wenn ein gesetzlicher Mechanismus eines Dritten dazu führt, dass der Anwalt bezahlt wird. Entscheidend ist nicht die Absicht, die hinter der Dienstleistung steht, oder die Zahlungsunfähigkeit des Mandanten, sondern die Frage, ob letztlich eine Vergütung - in welcher Form auch immer - gezahlt wird.
Dies würde sich auf Anwaltskanzleien und Einzelanwälte auswirken, die regelmäßig Mandanten in finanziellen Schwierigkeiten helfen. Sie müssen möglicherweise die Mehrwertsteuer auf die gesetzlichen Kosten auch dann ausweisen, wenn keine vertragliche Honorarvereinbarung besteht. Auch die Gerichte müssen unter Umständen ihren Ansatz bei der Kostenzuweisung überdenken, um die potenzielle Mehrwertsteuerpflicht des Dienstleisters zu berücksichtigen. Die Entscheidung unterstreicht auch die weite Auslegung des Begriffs "Gegenleistung" im EU-Mehrwertsteuerrecht und steht im Einklang mit früheren Urteilen, in denen die Substanz eines Umsatzes über seine rechtliche Form gestellt wurde.
Darüber hinaus verdeutlicht dieser Fall die Bedeutung der Rechtssicherheit bei der Anwendung der MwSt-Vorschriften auf reglementierte Berufe. Wie Kokott betonte, sollte es keine mehrwertsteuerlichen Verzerrungen geben, nur weil eine Dienstleistung durch eine gesetzliche Verpflichtung und nicht durch eine private Vereinbarung finanziert wurde. Die Gleichbehandlung ähnlicher Dienstleistungen - unabhängig davon, ob sie vertraglich oder gesetzlich vergütet werden - ist für die Wahrung der Mehrwertsteuerneutralität von wesentlicher Bedeutung.
Schlussfolgerung: Das Urteil des Gerichtshofs abwarten
Auch wenn die endgültige Entscheidung des EuGH noch aussteht, sind die Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache T.P.T. gegen Financial Bulgaria EOOD ein deutliches Signal dafür, dass gesetzlich vorgeschriebene Zahlungen, selbst in Pro-Bono-Kontexten, nach EU-Mehrwertsteuerrecht wahrscheinlich als steuerpflichtig angesehen werden. Die Schlussanträge sind fest in den Zielen des Mehrwertsteuersystems verankert, respektieren die funktionale Realität professioneller Dienstleistungen und lehnen übermäßig formalistische oder subjektive Auslegungen ab.
Wenn der Gerichtshof dieser Argumentation folgt, wird er nicht nur Klarheit in eine seit langem bestehende Grauzone bei der Anwendung der Mehrwertsteuer bringen, sondern auch den Grundsatz bekräftigen, dass die Besteuerung der wirtschaftlichen Substanz folgt. Für die Angehörigen der Rechtsberufe in der EU ist die Botschaft klar: Selbst wenn Dienstleistungen dem Kunden unentgeltlich angeboten werden, kann die Möglichkeit einer gesetzlichen oder gerichtlich angeordneten Vergütung dazu führen, dass der Umsatz in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fällt.
Bis zur Verkündung des Urteils werden Juristen, Gerichte und Steuerbehörden das Geschehen aufmerksam verfolgen. Der Ausgang dieses Falles könnte die Anwendung der Mehrwertsteuer in einer Reihe von Situationen beeinflussen, in denen sich Sozialpolitik mit Rechtspraxis und Steuerrecht überschneidet.
CJEU - C-744/23 - ECLI:EU:C:2025:332 - Dienstleistungen ohne Entgelt >> https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:62023CC0744

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