Mehrwertsteuer auf Finanzdienstleistungen: Steuerbefreiungen und Grauzonen erklärt

Zusammenfassung
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Die Mehrwertsteuer wird oft als eine relativ einfache Verbrauchssteuer auf Waren und Dienstleistungen angesehen. Obwohl es viele Ausnahmen gibt, sticht eine Branche heraus. Im Bereich der Finanzdienstleistungen wird die Steuerlandschaft immer komplexer, vor allem aufgrund der begrenzten Vorsteuerrückerstattung, sich entwickelnder Geschäftsmodelle wie Fintech, Outsourcing und grenzüberschreitende Dienstleistungen sowie unterschiedlicher nationaler Praktiken.
All diese Faktoren schaffen so genannte Grauzonen, die häufig zu Steuerprüfungen, Steuerbescheiden, zusätzlichen Mehrwertsteuerzahlungen, Gerichtsstreitigkeiten, Strafzahlungen und Zinsen führen. Auf EU-Ebene kann dies auch gegen grundlegende EU-Prinzipien verstoßen und sogar den Binnenmarkt stören. Daher ist es wichtig zu verstehen, wie die Mehrwertsteuerbefreiung im Finanzsektor angewendet wird und wie die Rechtsprechung die mehrwertsteuerliche Behandlung von Finanzdienstleistungen beeinflusst.
Mehrwertsteuerliche Behandlung von Finanzdienstleistungen
Gemäß der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie müssen die EU-Länder die meisten Finanz- und Versicherungsdienstleistungen von der Mehrwertsteuer befreien, was deren besonderen Charakter und Rolle in der Wirtschaft widerspiegelt. Da Finanzdienstleistungen für Mehrwertsteuerzwecke ein breites Spektrum an Tätigkeiten umfassen, gelten diese Befreiungen auch für die Gewährung oder Vermittlung von Krediten, die Verwaltung von Krediten und den Handel mit Garantien oder Wertpapieren. Daraus ergibt sich, dass die Unterwerfung von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen unter die Mehrwertsteuer den Zugang verzerren oder die Kosten erhöhen könnte.
Die Komplexität dieser Dienstleistungen wird noch dadurch erhöht, dass die Einkünfte aus diesen Dienstleistungen verschiedene Formen annehmen können, wie z. B. Zinsen aus Kredit- oder Finanzierungsvereinbarungen oder Provisionen für die Bereitstellung von Garantien. Da sie auf einer Gewinnspanne basieren, ist die Berechnung der Mehrwertsteuer komplex und möglicherweise nicht praktikabel.
Wenn eine Dienstleistung von der Mehrwertsteuer befreit ist, muss der Leistungserbringer grundsätzlich keine Mehrwertsteuer auf die Leistung erheben. Dies bedeutet jedoch, dass der Lieferant oder Dienstleister nur sehr begrenzte Rechte hat, die Vorsteuer zurückzufordern. Infolgedessen müssen die Finanzinstitute ihre Buchführung über die Mehrwertsteuer und die Mechanismen zur Rückerstattung der Vorsteuer sorgfältig strukturieren.
Aus praktischer Sicht gilt die Mehrwertsteuerbefreiung für Darlehen und Kredite, Versicherungen, die Ausgabe von Aktien, den Zahlungsverkehr, das Einlagengeschäft und ähnliche Tätigkeiten. Diese Befreiung ist jedoch nicht absolut. Damit eine Befreiung gilt, muss eine Dienstleistung einer strengen Auslegung der Vorschriften entsprechen, die zur Verhinderung von Missbrauch und zur Gewährleistung der Übereinstimmung mit den Grundsätzen der EU-Mehrwertsteuerrichtlinie entwickelt wurden.
Darüber hinaus werden die Grenzen zwischen steuerbefreiten und steuerpflichtigen Finanzdienstleistungen durch spezifische sektorbezogene Vorschriften und Auslegungen der nationalen Institutionen und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) weiter festgelegt.
Rechtsprechung, die den Umfang der Steuerbefreiungen bestimmt
In Fällen, in denen die Definition und die Bestimmungen Raum für Fehlinterpretationen oder eine falsche Anwendung der Steuerbefreiungen ließen, hat der EuGH eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt, die klärt, wann eine bestimmte Dienstleistung für die Mehrwertsteuerbefreiung im Finanzsektor in Frage kommt und wann nicht.
Eine der frühesten Rechtssachen zu diesem Thema ist die Rechtssache C-5/71, in der der EuGH klarstellte, dass nicht alle Dienstleistungen im Zusammenhang mit Zahlungen oder Überweisungen automatisch von der Mehrwertsteuer befreit sind. Entscheidend ist die Art der Dienstleistung selbst, d. h. ob sie die wesentliche Funktion einer Zahlung oder eines Transfers erfüllt. Folglich hängt die Steuerbefreiung nicht von der Identität des Lieferanten oder Dienstleisters ab.
In einer neueren Entscheidung in den gemeinsamen Rechtssachen C-58/20 K & C-59/20 DBKAG entschied der EuGH, dass steuerbezogene Dienstleistungen und Softwarelizenzen, die im Zusammenhang mit Spezial-Investmentfonds (SIFs) erbracht werden, unter die Steuerbefreiung fallen können, sofern die Dienstleistungen untrennbar mit der Verwaltung dieser Fonds verbunden sind und ausschließlich für diese Fonds verwendet werden.
In Bezug auf die SIFs erließ der EuGH ein weiteres bemerkenswertes Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-639/22 bis C-644/22, bekannt als der niederländische Pensionsfonds-Fall, in dem mehrere Pensionsfonds die von den niederländischen Steuerbehörden auf den Erwerb von Vermögensverwaltungsdienstleistungen festgesetzten Mehrwertsteuerbeträge anfechteten.
In dieser bahnbrechenden Rechtssache kam der EuGH zu dem Schluss, dass Pensionsfonds die für SIFs vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung in Anspruch nehmen können, wenn die Höhe der von den Pensionsfonds gewährten Rentenansprüche oder Leistungen in erster Linie von den Ergebnissen ihrer Investitionen abhängt.
Eines der Hauptprobleme bei Finanzdienstleistungen ist die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebentätigkeiten. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden spielt eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der mehrwertsteuerlichen Behandlung eines Umsatzes. So entschied der EuGH in der Rechtssache C-89/23, dass Dienstleistungen im Zusammenhang mit Versteigerungen für Mehrwertsteuerzwecke als getrennte und unabhängige Umsätze behandelt werden, was bedeutet, dass sie nicht in den Genuss der für die Kreditvergabe geltenden Mehrwertsteuerbefreiung kommen. Der Hauptgrund dafür war die Schlussfolgerung, dass eine Kreditgewährung auch dann möglich ist, wenn ein Dritter die Auktion durchführt.
Auch die nationalen Gerichte spielen eine entscheidende Rolle bei der Festlegung der Grenzen von Mehrwertsteuerbefreiungen. In der Rechtssache zwischen Target Group und HMRC entschied der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs zugunsten von HMRC und stellte fest, dass die Befreiung für Finanzdienstleistungen nicht für die Kreditverwaltungsdienste von Target gilt. In seinem Urteil betonte das Gericht die Bedeutung einer engen Auslegung der Steuerbefreiung und kam zu dem Schluss, dass die Mehrwertsteuerbefreiung nur dann gilt, wenn der Lieferant oder Dienstleistungserbringer an der tatsächlichen Ausführung der Zahlung und nicht nur an administrativen Schritten beteiligt ist.
Grauzonen und andauernde Streitigkeiten
Trotz dieser sich entwickelnden Rechtsprechung gibt es nach wie vor erhebliche Grauzonen, die zu einer Debatte auf EU-Ebene über die mögliche Aufhebung oder Überarbeitung der Steuerbefreiung für Finanz- und Versicherungsdienstleistungen führen. Im Jahr 2021 veröffentlichte die Europäische Kommission die Ergebnisse ihrer öffentlichen Konsultation zu den MwSt-Vorschriften.
Die Ergebnisse der öffentlichen Konsultation zeigten einen starken Konsens unter den Befragten für die Beibehaltung der Mehrwertsteuerbefreiungen. Die Mehrheit der Befragten, etwa 70 %, ist jedoch der Ansicht, dass die derzeitigen Steuerbefreiungen nicht mehr in vollem Umfang mit den modernen Entwicklungen, insbesondere der Digitalisierung der Wirtschaft, vereinbar sind. Diese Diskrepanz zwischen dem bestehenden MwSt.-Rahmen und den Realitäten der digitalen Dienstleistungserbringung schafft Grauzonen.
So hat Insurance Europe, ein in Brüssel ansässiges Vertretungsorgan der nationalen Versicherungsverbände, in seiner Antwort auf die öffentliche Konsultation die von Fintechs erbrachten Dienstleistungen, Zahlungsdienstleistungen, durch digitale Prozesse ausgeführte Versicherungsvermittlungstätigkeiten sowie Vermittlungs- und Vertriebsdienstleistungen aufgrund unklarer Definitionen für Mehrwertsteuerzwecke als problematisch bezeichnet.
Als Lösung schlug Insurance Europe eine umfassende Überarbeitung der Gesetzgebung vor, die eine klar definierte Präambel enthalten und das bestehende, fragmentierte Regelwerk vollständig ersetzen soll. Die Organisation fügte hinzu, dass die derzeitige Richtlinie mit ihrem engen und manchmal veralteten Anwendungsbereich nicht mehr die betrieblichen Realitäten des modernen Finanz- und Versicherungssektors widerspiegelt, insbesondere angesichts der zunehmenden Verbreitung von Outsourcing und Digitalisierung.
Auswirkungen auf Compliance und Risikomanagement
Unternehmen, die im Finanzsektor tätig sind oder Dienstleistungen für diesen erbringen, müssen die Vorschriften zur Mehrwertsteuerbefreiung genau analysieren und streng auslegen. In erster Linie müssen die Unternehmen die Art ihrer Dienstleistungen sorgfältig prüfen, um festzustellen, ob die Befreiung anwendbar ist. Da die Vorsteuerrückerstattung für steuerbefreite Finanzdienstleistungen oft eingeschränkt oder verboten ist, müssen die Unternehmen die Rückerstattungsbeschränkungen bewerten und dokumentieren und sicherstellen, dass die Zuweisung der MwSt-Kosten und die internen Buchhaltungssysteme entsprechend strukturiert sind.
Da viele Dienstleistungen ausgelagert werden, z. B. die Darlehensverwaltung, müssen die Unternehmen sicherstellen, dass die Vertragsbedingungen den wirtschaftlichen Gehalt der Dienstleistung definieren. Das bedeutet, dass genau festgelegt werden muss, wer welche Funktion ausführt, wer die Haftung trägt, wer den Prozess kontrolliert und wie die Dienstleistung gestaltet ist. Der jüngste Fall Target zeigt, wie der feine Unterschied zwischen Ausführung und Anweisung über die Berechtigung zur Mehrwertsteuerbefreiung entscheidet.
Schließlich müssen die Unternehmen die Entwicklungen der Gesetzesreform und der Konsultation verfolgen. Da man sich einig ist, dass der bestehende MwSt.-Rahmen den Anforderungen des digitalen Zeitalters nicht gerecht wird, wird es in den kommenden Jahren zweifellos zu Änderungen kommen.
Schlussfolgerung
Während viele Bank-, Versicherungs- und Fondsverwaltungstätigkeiten von der Mehrwertsteuer befreit sind, gibt es mehrere Grauzonen, vor allem bei modernen Finanzgeschäften wie Outsourcing, Fintech und grenzüberschreitenden Dienstleistungen. Diese Entwicklung des Finanzsektors bringt folglich Neuerungen in den geltenden Regeln und Vorschriften mit sich. Daher stehen Unternehmen, die im Finanzsektor tätig sind, vor zwei Aufgaben: Sie müssen die aktuellen Kriterien und Bestimmungsfaktoren für die Mehrwertsteuerbefreiung verstehen und der Entwicklung immer einen Schritt voraus sein.
Quelle: Europäische Kommission, EY, Deloitte, Irische Steuern und Zölle, Finnische Steuerverwaltung, EU-Mehrwertsteuerrichtlinie, VATabout - Ihre Kredite sind gerade teurer geworden: EuGH C-89/23 erklärt die Versteigerung von Pfandgegenständen zu einer eigenständigen Mehrwertsteuerleistung!, VATabout - EuGH klärt Mehrwertsteuerregeln für Pensionsfonds und spezielle Investmentfonds, EuGH Rechtssache C-5/71, UK Supreme Court, ECTI | Politik Abteilung für Wirtschaft und Wachstum, Versicherung Europa
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