Überhöhte Mehrwertsteuer und vereinfachte Rechnungen: Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-794/23

Zusammenfassung
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In dieser Rechtssache geht es um ein immer wieder auftretendes Mehrwertsteuerproblem bei B2C-Massengeschäften: Was geschieht, wenn ein Steuerpflichtiger auf vereinfachten Rechnungen einen zu hohen Mehrwertsteuersatz ausweist und später versucht, die Mehrwertsteuererklärung zu korrigieren, ohne jeden einzelnen Beleg berichtigen zu können? Der Gerichtshof hatte die Aufgabe, Artikel 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach die Mehrwertsteuer von jedem geschuldet wird, der sie auf einer Rechnung ausweist, und Artikel 238, der die vereinfachte Rechnungsstellung zulässt, auszulegen. Im Kern geht es um den Zusammenhang zwischen Artikel 203 und seinem Zweck, die Gefahr von Steuerausfällen durch unrechtmäßigen Vorsteuerabzug zu verhindern. Der Gerichtshof wurde auch gefragt, was unter dem Begriff "Endverbraucher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind" zu verstehen ist und ob die Steuerbehörden bei vereinfachter Rechnungsstellung, bei der die Kunden nicht individuell identifiziert werden, abschätzen können, bei welchen Einnahmen noch ein Risiko von Steuerausfällen besteht.
Fakten und Umstände
Die P GmbH ist ein österreichisches Unternehmen, das einen Indoor-Spielplatz betreibt. Im Jahr 2019 erhob sie Eintrittsgelder und wendete auf diese Entgelte den Regelsteuersatz von 20 % an. Angesichts des geringen Wertes der einzelnen Umsätze stellte P Kassenbelege nach den österreichischen Vorschriften für vereinfachte Rechnungen aus. P meldete in seiner Umsatzsteuererklärung für 2019 eine Umsatzsteuer von 20 % an, reichte aber später eine Berichtigung ein und machte geltend, dass die Eintrittsgelder mit dem ermäßigten Satz von 13 % hätten besteuert werden müssen.
Die Steuerbehörde weigerte sich, diese Berichtigung zu akzeptieren. Sie betonte, dass P auf seinen Quittungen einen Mehrwertsteuersatz von 20 % ausgewiesen habe und dass es in der Praxis unmöglich sei, diese vereinfachten Rechnungen zu ändern oder den Kunden Gutschriften für die Differenz zu erteilen. Sie argumentierte auch, dass die Zulassung der Berichtigung, nachdem die Kunden 20 % Mehrwertsteuer getragen hatten, P ungerechtfertigt bereichern würde.
P wandte sich gegen diese Weigerung. Er behauptete, seine Dienstleistungen würden "fast ausschließlich" an Privatpersonen erbracht, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt seien. Auf dieser Grundlage argumentierte P, dass keine Gefahr eines Steuerausfalls bestehe und daher Artikel 203 nicht anwendbar sei und eine Rechnungsberichtigung nicht verlangt werden dürfe.
Dieser Streit folgte auf ein früheres Vorabentscheidungsurteil in einer verwandten Rechtssache (C-378/21). Dort hatte der Gerichtshof entschieden, dass ein Steuerpflichtiger nach Artikel 203 nicht für den zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer haftet, wenn es sich bei den Empfängern ausschließlich um Endverbraucher handelt, die kein Recht auf Vorsteuerabzug haben, weil in diesem Fall kein Risiko eines Steuerausfalls besteht. Nach diesem Urteil setzte der Bundesfinanzhof die Mehrwertsteuer von P für 2019 herab, ging aber weiterhin von einem geringen Restrisiko aus: Da er nicht ausschließen konnte, dass einige Kunden Steuerpflichtige waren, die die Mehrwertsteuer (zu Recht oder zu Unrecht) abgezogen haben, schätzte er, dass 0,5 % der Rechnungen ein Verlustrisiko bergen, und behielt die Haftung für diesen Teil bei. Die Steuerbehörde legte Berufung ein und argumentierte, dass eine solche Schätzung und Aufteilung von dem früheren Urteil abweicht.
Rechtlicher Rahmen
Der Gerichtshof konzentriert sich auf das EU-Mehrwertsteuerrecht.
Nach Artikel 203 der MwSt-Richtlinie schuldet die MwSt jede Person, die in einer Rechnung MwSt ausweist. Der Gerichtshof verweist auf seine ständige Rechtsprechung, wonach diese Vorschrift auch dann gilt, wenn die Mehrwertsteuer ohne einen tatsächlichen steuerpflichtigen Umsatz in Rechnung gestellt wurde, da das Hauptziel darin besteht, Einnahmeverluste aufgrund eines unrechtmäßigen Vorsteuerabzugs zu verhindern. Dementsprechend ist Artikel 203 nur insoweit anwendbar, als die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde, und auch nur dann, wenn die Gefahr besteht, dass der Empfänger sie abziehen könnte.
Nach Artikel 238 können die Mitgliedstaaten vereinfachte Rechnungen für Umsätze mit geringem Wert oder in Fällen, in denen eine vollständige Rechnungsstellung schwierig ist, zulassen. Artikel 238 ist in diesem Zusammenhang von praktischer Bedeutung: Bei vereinfachten Rechnungen für Massengeschäfte wird der Empfänger oft nicht identifiziert, so dass es schwierig ist, zu überprüfen, wer zum Vorsteuerabzug berechtigt ist und ob die Steuerschuldnerschaft nach Artikel 203 bestehen bleibt.
Der Hof verweist auch auf die nationalen österreichischen Bestimmungen nur zur Erläuterung des Zusammenhangs: Österreich verlangt vereinfachte Quittungen für Rechnungen bis zu 400 Euro, und die nationalen Vorschriften sehen eine Haftung für falsch ausgewiesene Mehrwertsteuer vor, sofern diese nicht gegenüber dem Empfänger berichtigt wird. Das österreichische Recht verhindert auch Erstattungen, wenn sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würden.
Standpunkte der Parteien und die Rechtsfrage
Die Steuerbehörde vertrat den Standpunkt, dass P für die gesamte ausgewiesene Mehrwertsteuer in Höhe von 20 % haftbar bleiben sollte, da die Rechnungen nicht rechtzeitig berichtigt worden waren und ein Restrisiko von Einnahmeausfällen nicht ausgeschlossen werden konnte. Sie lehnte es ab, die Haftung durch eine Schätzung zu verringern, bei der die Einnahmen zwischen Endverbrauchern und Steuerpflichtigen aufgeteilt werden.
P argumentierte, dass es sich bei seinen Kunden fast ausschließlich um Privatpersonen handele und dass daher kein echtes Risiko von Einnahmeausfällen bestehe. Seiner Ansicht nach sollte Artikel 203 unter diesen Umständen nicht greifen, d. h. er sollte in der Lage sein, die Mehrwertsteuererklärung zu berichtigen, auch wenn er nicht jeden einzelnen Beleg korrigieren kann.
Der österreichische Oberste Verwaltungsgerichtshof stellte daher drei Fragen. Vereinfacht formuliert:
Haftet ein Steuerpflichtiger auch dann nach Art. 203 für falsch in Rechnung gestellte Umsatzsteuer auf an einen Nichtsteuerpflichtigen ausgestellte Quittungen, wenn er gleichartige Leistungen auch an Steuerpflichtige erbringt?
Erfasst der Begriff "Endverbraucher ohne Recht auf Vorsteuerabzug" nur Nichtsteuerpflichtige oder auch Steuerpflichtige, die die Dienstleistung privat und damit ohne Recht auf Vorsteuerabzug nutzen?
Dürfen Behörden oder Gerichte bei vereinfachter Rechnungsstellung nach Artikel 238 anhand von Schätzungen feststellen, welche Rechnungen noch ein Risiko von Einnahmeausfällen bergen und daher Artikel 203 auslösen?
Die Analyse des Gerichtshofs
Artikel 203 und Rechnungen an Nichtsteuerpflichtige
Der Gerichtshof verweist zunächst auf die Funktion von Artikel 203. Die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer wird vom Aussteller geschuldet, da diese Angabe den Empfänger zum Vorsteuerabzug berechtigen kann, was zu einem möglichen Verlust von Steuereinnahmen führt. Daher ist Artikel 203 nur anwendbar, wenn ein solches Risiko besteht, und das Bestehen eines solchen Risikos muss für jede einzelne Rechnung geprüft werden, je nachdem, wer diese Rechnung erhalten hat.
Daraus zieht der Gerichtshof eine wichtige Konsequenz: Handelt es sich bei dem Empfänger einer bestimmten Rechnung um einen Nichtsteuerpflichtigen, so kann dieser Empfänger die Mehrwertsteuer nicht abziehen, und es besteht kein Risiko von Einnahmeausfällen. In diesem Fall haftet der Rechnungsaussteller nach Artikel 203 nicht für den zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Rechnung, selbst wenn er ähnliche Leistungen auch an Steuerpflichtige in anderen Umsätzen erbringt. Die Haftung hängt vom Empfänger der einzelnen Rechnungen ab, nicht von der Kundenstruktur des Unternehmers insgesamt.
Bedeutung des Begriffs "Endverbraucher ohne Recht auf Vorsteuerabzug"
Anschließend legt der Gerichtshof den in seiner früheren Rechtsprechung verwendeten Begriff aus. Er betont, dass das Risiko von Einnahmeausfällen nicht vollständig beseitigt ist, solange eine Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer noch von einem Steuerpflichtigen zum Vorsteuerabzug verwendet werden könnte. Selbst wenn dieser Steuerpflichtige die Dienstleistung für private Zwecke oder in einer Weise genutzt hat, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt, kann es sein, dass die Steuerbehörden dies nicht rechtzeitig erkennen, und komplexe Situationen können die fehlende Abzugsfähigkeit verschleiern. Aus diesem Grund legt der Gerichtshof den Begriff streng aus.
Er stellt daher fest, dass sich der Begriff "Endverbraucher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind" nur auf Nichtsteuerpflichtige bezieht. Steuerpflichtige sind von dieser Kategorie ausgeschlossen, auch wenn sie in einer bestimmten Situation nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt wären.
Verwendung von Schätzungen im Rahmen der vereinfachten Rechnungsstellung
Schließlich befasst sich der Gerichtshof mit dem praktischen Problem der vereinfachten Rechnungsstellung im Massengeschäft, bei dem die Empfänger nicht identifiziert werden. Das EU-Recht selbst schreibt nicht vor, nach welchen Kriterien oder unter welcher Beweislast zu bestimmen ist, welche Rechnungen noch ein Risiko nach Artikel 203 bergen. Dies ist eine Frage der nationalen Verfahrensautonomie, die durch die Grundsätze der Wirksamkeit und der Äquivalenz begrenzt wird. Die nationalen Vorschriften dürfen es nicht praktisch unmöglich machen, eine Berichtigung oder Erstattung zu erhalten, wenn kein Verlustrisiko besteht.
Da das Risiko bei jeder Rechnung zu prüfen ist, erklärt der Gerichtshof, dass die Behörden möglicherweise feststellen müssen, welche Quittungen wahrscheinlich an Steuerpflichtige ausgestellt wurden. Dabei müssen sie alle relevanten Umstände berücksichtigen, wie z. B. die Art der Dienstleistung, die Art und Weise, wie sie erbracht und in Rechnung gestellt wird, sowie alle statistischen Informationen über die Kunden. Der Gerichtshof hebt hervor, dass die Tatsache, dass es nur wenige Kunden unter den Steuerpflichtigen gibt, von Bedeutung sein kann.
Entscheidend ist, dass der Gerichtshof feststellt, dass das EU-Recht der Verwendung einer Schätzung zur Ermittlung des Anteils der Rechnungen, die Steuerpflichtige betreffen, nicht entgegensteht, sofern die Schätzung die steuerliche Neutralität und Verhältnismäßigkeit wahrt. Die Neutralität setzt voraus, dass ein Wirtschaftsbeteiligter nicht mit der Mehrwertsteuer belastet wird, die erstattet werden sollte, wenn kein Risiko eines Einnahmeverlusts besteht. Die Verhältnismäßigkeit setzt voraus, dass die verwendeten Daten korrekt, zuverlässig und aktuell sind und dass die Schätzung nur eine widerlegbare Vermutung begründet, die der Steuerpflichtige mit gegenteiligen Beweisen widerlegen kann. Der Steuerpflichtige muss außerdem eine echte Möglichkeit haben, die Schätzung anzufechten, und die Beweisanforderungen dürfen nicht zu hoch sein.
Schlussfolgerung
Der Gerichtshof bestätigt, dass Artikel 203 nur dann Anwendung findet, wenn eine Rechnung das Risiko eines Einnahmeverlusts durch einen möglichen Vorsteuerabzug birgt. Daher ist bei Rechnungen, die an Nichtsteuerpflichtige ausgestellt werden, kein Vorsteuerabzug möglich, und der Rechnungsaussteller haftet nicht für die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer, selbst wenn er auch an Steuerpflichtige verkauft. Der Gerichtshof grenzt auch den Begriff "Endverbraucher ohne Recht auf Vorsteuerabzug" auf Nichtsteuerpflichtige ein; Steuerpflichtige werden nie einbezogen, selbst wenn sie in einer bestimmten Situation kein Recht auf Vorsteuerabzug haben.
Da die vereinfachten Quittungen keine Angaben über die Kunden enthalten, können die nationalen Behörden anhand von Schätzungen ermitteln, welche Rechnungen wahrscheinlich an Steuerpflichtige gingen und somit noch ein Vorsteuerabzugsrisiko darstellen. Solche Schätzungen sind nur dann zulässig, wenn sie zuverlässig, verhältnismäßig, neutral und widerlegbar sind, so dass der Wirtschaftsbeteiligte eine echte Chance hat, sie anzufechten.
Kurz gesagt, Unternehmer können zu viel berechnete Mehrwertsteuer auf vereinfachte B2C-Einnahmen korrigieren, bei denen kein echtes Vorsteuerabzugsrisiko besteht, während die Mitgliedstaaten die außergewöhnlichen risikobehafteten Rechnungen durch verhältnismäßige Schätzungen isolieren können.
Quellen: Rechtssache C-794/23 - Finanzamt, Österreich gegen P GmbH, EU-Mehrwertsteuerrichtlinie
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